Die Hölle

Bosch, Hieronymus

um 1495 bis 1505

Spanien; Madrid; Museo del Prado

Objekt

1 / 2
Bildrechte
Detailtitel:Die Hölle (rechter Seitenflügel von: Garten der Lüste)
Titel in Originalsprache:De Hel (De Tuin der lusten)
Titel in Englisch:The Hell (The Garden of Earthly Delights)
Datierung: um 1495 bis 1505
Ursprungsregion:altniederländischer Raum
Lokalisierung:Spanien; Madrid; Museo del Prado
Medium:Altarbild; Tafelbild
Material:Öl
Bildträger:Holz (Eiche)
Maße: Höhe: 187,5 cm; Breite: 76,5 cm
Maße Anmerkungen:Seitenflügel jeweils 185,8 x 76,5 cm; Mitteltafel: 185,8 x 175 cm
Ikonografische Bezeichnung:Hölle
Iconclass:11T2 – symbols of hell
Signatur Wortlaut:ohne
Datierung Wortlaut:ohne
Inschriften:

129,67; im unteren rechten Eck

Auftraggeber/Stifter:vermutlich Engelbert II. von Nassau (Graf von Nassau-Breda)
Provenienz:Engelbert II. von Nassau, 1490/1500–04; Heinrich III. von Nassau, 1504–38; René de Châlon, 1538–44; William I. von Oranien, 1544–67; Fernando Álvarez de Toledo, Herzog von Alba, 1567/68; Fernando de Toledo, 1568–91; Philipp II., 1591; am 8.7.1593 von Philipp II. dem Kloster El Escorial geschenkt; seit 1933 im Museo del Prado, seit 2.3.1943 als Dauerleihgabe (im Besitz des El Escorial)
Zugänglichkeit zum Entstehungszeitpunkt:unbekannt

Bildnis 1

Bildrechte
Lokalisierung im Objekt:zentrale große Figur im mittleren Bereich
Ausführung Körper:Ganzfigur stehend
Ausführung Kopf:Frontalansicht
Ikonografischer Kontext:Baummann inmitten des Höllenszenarios
Blick/Mimik:Blick nach links
Gesten:Hände nicht sichtbar
Körperhaltung:aufrecht; Ansicht von hinten; Kopf über die Schulter gedreht
Interaktion/Raum-, Bildraumbeziehung/ Alleinstellungsmerkmal:Nahezu im Zentrum des Bildes; dominante, hell gefärbte Figur vor dunklem Hintergrund; auffällig auch durch die im Vergleich mit den meisten anderen Motiven herausragende Größe; trotz des horror vacui kaum überschnitten
Attribute:Die Figur ist als Binnenszene zu betrachten, weshalb ihr zahlreiche weitere Elemente (etwa ein rundes Podium auf dem Kopf der Figur mit diversen Gestalten und einem rosafarbenen Dudelsack; ein geöffneter Körper mit einer darin ausgeführten Schenke samt verschiedenen Protagonisten; eine Leiter; Schiffe) beigefügt sind. Im engeren Sinn sind diese jedoch nicht als Attribute der Figur zu verstehen.
Kleidung:Die Figur ist nicht nach herkömmlichen Kriterien zu bewerten. Sie trägt eine Baumhaut, einen runden Tanzboden als Kopfbedeckung, Schiffe als Schuhe, eine Masche als Strumpfband.
Sonstiges:Baummann
Zugeordnete Bildprotagonisten:alle Figuren auf dem Kopf bzw. im Körper des Baummenschen; im weitesten Sinn alle Bildprotagonisten

Forschungsergebnis: Bosch, Hieronymus

Künstler des Bildnisses:Bosch, Hieronymus
Status:kontrovers diskutiert
Typ Autor/in Jahr Referenz Seite Anmerkungen
Erstzuschreibung Brion 1938 Brion 1938 – Bosch 49
Details
Brion äußert eine vorsichtige Vermutung.
Skeptisch/verneinend Mosmans 1947 Mosmans 1947 – Jheronimus Antoniszoon van Aken 41f -
Bejahend Benesch 1957 Benesch 1957 – Hieronymus Bosch and the Thinking 118, 118 (Anm. 1)
Details
Benesch wird in der Literatur vielfach fälschlicherweise als derjenige angegeben, der das mögliche Selbstporträt erstmals thematisierte.
Bejahend Baldass 1960 Baldass 1960 – Hieronymus Bosch 239 -
Bejahend Bosman 1962 Bosman 1962 – Hieronymus Bosch 14, 87 -
Bejahend Bianconi 1965 Bianconi 1965 – Bramantino o. S. -
Skeptisch/verneinend Tolnay, de 1966 Tolnay 1966 – Hieronymus Bosch 362 -
Bejahend Lurker 1967 Lurker 1967 – Die Pflanze in der Bildwelt 351
Details
Lurker deutet den Baummenschen als Symbol des Selbst.
Bejahend Buzzati 1968 Buzzati, Cinotti 1968 – L'opera completa di Bosch 101 -
Bejahend Orienti/Solier 1979 Orienti, Solier 1979 – Hieronymus Bosch 95
Details
Die Forschenden formulieren die These zum Selbstporträt als offene Frage.
Skeptisch/verneinend Marijnissen 1988 Marijnissen 1988 – Hieronymus Bosch 90, 100 (Anm. 218) -
Skeptisch/verneinend Van Dijck 2001 Dijck 1.9.–11.11.2001 – Hieronymus van Aken 15f -
Bejahend Belting 2002 Belting 2002 – Hieronymus Bosch 38, 57
Details
Belting hält den Kopf des Baummenschen lediglich für ein mögliches Selbstporträt.
Bejahend Carroll 2002 Carroll 2022 – Hieronymus Bosch 131, 136
Details
Hinweis auf eine Selbstprojektion als Sonderform eines Selbstporträts.
Bejahend Koerner 2005 Koerner 2005 – Self-portraiture direct and oblique 78
Details
Koerner interpretiert den Baummenschen als symbolisches Selbstporträt.
Bejahend Calabrese 2006 Calabrese 2006 – Die Geschichte des Selbstporträts 57
Details
Calabrese führt zwei mögliche Selbstdarstellungen im Gemälde gleichwertig neutral als mögliche Selbstdarstellungen an.
Skeptisch/verneinend Legner 2009 Legner 2009 – Der Artifex 482, 484 -
Skeptisch/verneinend Gigante 2010 Gigante 2010 – Autoportraits en marge 131 -

Brion (1938) setzt sich eingehend mit der Figur des Kopffüßlers in der zentralen Szene der Mitteltafel des Antonius-Altars auseinander und vergleicht dessen Physiognomie mit der des Baummenschen im Garten der Lüste. Beiden Figuren sei ein Ausdruck schmerzlicher Ironie und sarkastischer Bitterkeit gemein. Darüber hinaus sieht Brion eine Nähe zur Zeichnung im Codex von Arras, die er als authentisches Porträt von Hieronymus Bosch einstuft. Die auffällige Ähnlichkeit der beiden Protagonisten zur Grafik lasse ihn, so Brion, vermuten, dass es sich um Porträts von Bosch handeln könnte, auch wenn er diese These nicht mit Sicherheit behaupten wolle. Als Argument zur Untermauerung seiner Überlegungen führt er an, dass sich beide Bildfiguren deutlich vom umgebenden Geschehen abheben.1

Mosmans (1947) weist die Identifizierung des Kopfs des Baummannes und auch der aus seinem Körper blickenden Figur in der Höllentafel als Selbstdarstellung zurück. Er begründet dies mit fehlenden überzeugenden Übereinstimmungen mit den Bildnissen in der Anbetung der Könige und der Dornenkrönung im Escorial, die er als Bildnisse von Bosch anerkennt. Darüber hinaus hält er es für ausgeschlossen, dass sich der Maler zweimal auf derselben Tafel selbst porträtiert haben könnte, weshalb zumindest eine der vorgeschlagenen Identifizierungen abzulehnen sei.2

Benesch (1957) gehört zu den frühen Autoren, die in den Zügen des Baummannes im Prado den Künstler selbst erkennen wollen. Zudem verweist er auf eine Ähnlichkeit desselben ironischen Gesichtsausdrucks bei der Figur am linken Rand der Kreuztragung in Wien, womit er die von Baldass vertretene Selbstporträtthese zu dieser Figur bestätigt.3

Baldass (1960) deutet das Motiv des Baummanns als eine satanische Darstellung mit alchemistischem bzw. häretischem Hintergrund. Während er die entsprechende Grafik als eine Strategie der Selbstvermarktung einschätzt, erkennt er im Gesicht des Baummanns in der Höllentafel im Prado ein Selbstporträt des Künstlers.4

De Tolnay (1966) widerspricht der These von Benesch, nach der das Gesicht des Baummannes ein Selbstporträt Boschs darstellt. Vielmehr will der Autor eine Selbstdarstellung im Mann erkennen, der sich in Melancholiegestus aus der Taverne lehnt.5

Lurker (1967), der sich intensiv mit der Symbolkraft des Baumes in Boschs Werk auseinandersetzt, resümiert, der Baummensch sei eine künstlerische Manifestation einer Idee, ein „Symbol des Selbst [als] auch ein Symbol der Ganzheit“. Bei Bosch verschmelzen einzelne Elemente (Schiff, Baum, Ei, Mensch) zu einer dominanten Einheit, in der „am Schnittpunkt zwischen Diesseits und Jenseits [verschiedene] Ebenen menschlichen Seins zusammenfallen.“6

Nach Orienti und Solier (1979) spiegle der Kopf des Baummenschen in seiner Bewegungslosigkeit innerhalb des teuflischen Treibens ein umfassendes Wissen wider, was nicht zuletzt durch den Mühlstein symbolisiert wird, der den Druck der Gedanken repräsentiere. Die Forschenden stellen die Frage, ob es sich bei diesem Kopf möglicherweise um ein Selbstporträt handelt.7

„Es war beinahe unvermeidlich, in diesem scheel blickenden Kopf ein Selbstporträt Boschs zu sehen“,8 so Marijnissen (1988), der zurecht betont, dass der Baummensch als Prototyp von Boschs rätselhaften, höllischen Mischwesen eine herausragende Rolle in der Selbstporträtforschung zum Maler spielt.9 Im Anmerkungsappart weist der Autor jedoch ausdrücklich darauf hin, dass kein gesichertes Selbstporträt von Bosch existiert. Thesen, die sich aus Vergleichen mit der Grafik im Codex von Arras ableiten, bewertet Marijnissen als überzogen.10

Van Dijck (2001) befasst sich in seinen Ausführungen zur Biografie von Hieronymus Bosch und der Suche nach Selbstdarstellungen im Sinne einer Rekonstruktion der Vita und Identität des Malers auch mit Fragen zur Glaubhaftigkeit portäthafter Darstellungen bzw. vorgeschlagenen Selbstporträts des Künstlers. Nach einer Auflistung der in der Forschung diskutierten Selbstbildnisse (einschließlich des hier vorgestellten), die er allesamt als unglaubwürdig einstuft, resümiert er unter Bezugnahme auf Mosmans, dass lediglich die Bildnisse in der Dornenkrönung Christi im Escorial und in Anbetung der Hl. Drei Könige eventuell als Selbstbildnisse interpretiert werden könnten.11

Belting (2002) hält es für möglich, dass das Gesicht des Baummenschen im Prado, in dem Fantasie, Allegorie und Realismus der Bosch'schen Malerei zu einem Höhepunkt kommen, als Selbstdarstellung zu interpretieren ist. Der ironische Ausdruck des Gesichts wäre als Signatur eines Malers zu werten, der seine persönliche Vorstellungswelt in bizarre Bildwelten transformierte. Wie Belting beobachtet, lässt sich die Physiognomie des Mannes (ein schmales Gesicht, ein verschwörerischer Blick, lange, aschblonde Haare) in weiteren Figuren auf der Mitteltafel des Altars wiederfinden, insbesondere in der mit einem Zeigegestus ausgestatteten Figur im unteren rechten Eck. Im Vergleich zum Baummenschen wirke dieser Mann wie ein diskreter Kommentar.12 Thesen, dass es sich dabei ebenfalls um ein teuflisches Porträt von Bosch handelt, könnten laut Belting zutreffen. Diese Figur, der einzige bekleidete Mann im Retabel, blickt hinter einem Glas und einer Frau in Melancholiegestus in Richtung der BetrachterInnen und könnte Adam und Eva vor dem Sündenfall beobachten. Unabhängig von der Interpretation sei in dieser Szene ein fiktiver, paradiesischer Zustand vor dem Sündenfall gezeigt.13

Für Carroll (2002) stellt der Baummann eine Randfigur im Altar dar. Indem er seinen Blick über das Bild schweifen lässt, nimmt er die Rolle eines inneren Betrachters ein, der stellvertretend für einen externen Betrachter agiert. Als solcher ist der Mann eine Projektion des Künstlers, auch wenn kein konkretes Selbstporträt vorliegt: „Though we know nothing about Hieronymus Bosch's physical appearance, we might still construe the Treeman as a projection of the painter's self.“14 Weiterführend analysiert Carroll die Konfrontation zwischen der Christusfigur auf dem linken Flügel des Retabels und dem Künstlerselbst in Gestalt des Baummenschen auf dem rechten Flügel. Sie interpretiert die beiden Figuren als bildlichen Vergleich zweier unterschiedlicher Schöpfer: des idealisierten Schöpfers der Welt (Gott) und des grotesken Schöpfers des Bildes (Maler), der uns durch seinen Blick dazu zwingt, sein Werk bzw. sein Bild anzuerkennen. Damit lasse sich Bosch in eine Reihe mit Künstlern wie Leonardo da Vinci oder Albrecht Dürer stellen. Während diese den Vergleich jedoch auf einer positiven Ebene formulierten, wie etwa das christomorphe Selbstporträt Dürers von 1500 zeigt, projiziert Bosch sein Selbst in die Figur eines Opfers der drohenden Apokalypse.15

Koerner (2005) analysiert den Baummenschen auf einer symbolischen Ebene und lässt offen, ob es sich um eine konkrete Selbstdarstellung Boschs oder um eine verallgemeinerte Darstellung des Menschen handelt. In jedem Fall repräsentiere die Figur die Zerrissenheit des Malers, der von seinem Streben nach Selbsterkenntnis beherrscht wird. So drehe sich der Baummann, um das Nichts in seinem Inneren zu enthüllen. Im Garten der Lüste, in dem das Loch im Körpers des Baummenschen laut einer etymologischen Ableitung des Autors die Hölle selbst symbolisieren könne, blicke der Baummensch auf Adam im Paradies zurück. Die Physiognomie Adams am linken Seitenflügel des Altars ähnle, wie auch viele Figuren auf der Mitteltafel, dem Gesicht des Baummenschen. Dies sei jedoch nicht darauf zurückzuführen, dass es sich um dieselbe Person handelt, sondern vielmehr darauf, dass alle Menschen Adams Erben sind.16

Legner (2009) weist auf die Schwierigkeiten von Selbstporträtidentifizierungen hin und bewertet entsprechende Versuche bei Bosch als „spekulativ“. Der Autor listet in der Forschungsliteratur vorgeschlagene Selbstdarstellungen auf: Figuren in der Wiener Kreuztragung, in der Londoner Dornenkrönung, im Triptychon zu den Versuchungen des hl. Antonius in Lissabon, im Heuwagentriptychon sowie im Garten der Lüste, beide in Madrid. Legner geht wertneutral auf die Selbstporträtthesen ein, folgerichtig führt er im Fall des Baummenschen im Höllenflügel im Prado beide als Selbstinszenierungen vorgeschlagenen Figuren an: den Kopf des Baummenschen und den kleinen Mann, der aus seinem Eikörper herausschaut. Dabei denkt der Autor über mögliche psychologische Verbindungen der Bildfiguren mit Bosch nach, die in den Figuren zum Ausdruck kommen könnten.17

Calabrese (2006) merkt zunächst an, dass die Höllentafel von Bosch das einzige Gemälde sei, das allgemein als Selbstdarstellung anerkannt ist. In Ergänzung dieser verwirrenden Aussage, die impliziert, dass das ganze Gemälde als Selbstdarstellung gemeint ist, zieht Calabrese einen Vergleich mit der Selbstdarstellung von van Eyck im Arnolfini-Spiegel: Die bei van Eyck durch die Darstellung als kleine Randfigur zum Ausdruck kommende Selbstironie steigere sich bei Bosch ins Sarkastische. Ohne eine Präferenz auszudrücken, führt der Autor in der Folge zwei polarisierende Interpretationen auf. Nach der einen sei das realistische Gesicht des Baummannes, nach der anderen der bildzentrale kleine Mann am Rande der Szene im Eikörper des Baummannes als Selbstdarstellung zu deuten.18

Gigante (2010) bewertet Identifizierungen von Selbstdarstellungen Boschs – wie im Garten der Lüste, im linken Flügel der Versuchungen des hl. Antonius und im linken unteren Eck der Kreuztragung – als reine Vermutungen.19

Verweise

  1. Brion 1938, 49. Teils wird der Kopf des Baummenschen unreflektiert als mögliche Selbstdarstellung angegeben, vgl. u. a. Bianconi 1965, o. S.; Bosman 1962, 14, 87; Buzzati/Cinotti 1968, 101; Eisler 1989. Zur Zeichnung in Arras und zu weiteren Hinweisen im nachfolgenden Forschungsstand auf Bildnisse in der Anbetung der Könige, der englischen und spanischen Dornenkrönung und dem Heuwagentriptychon vgl. den Einleitungstext zum Maler.↩︎

  2. Mosmans 1947, 41f.↩︎

  3. Benesch 1957, 118, 118 (Anm. 1).↩︎

  4. Baldass 1960, 239. Zur Grafik des Baummannes vgl. den Einleitungstext zum Maler.↩︎

  5. Tolnay 1966, 362.↩︎

  6. Lurker 1967, 351.↩︎

  7. Orienti/Solier 1979, 95.↩︎

  8. Marijnissen 1988, 90.↩︎

  9. Ebd.↩︎

  10. Ebd., 100 (Anm. 218).↩︎

  11. Dijck 2001, 15f.↩︎

  12. Belting 2002, 38.↩︎

  13. Ebd., 57.↩︎

  14. Carroll 2022, 131.↩︎

  15. Ebd., 136.↩︎

  16. Koerner 2005, 78.↩︎

  17. Legner 2009, 482, 484.↩︎

  18. Calabrese 2006, 57.↩︎

  19. Gigante 2010, 137.↩︎

Bildnis 2

Bildrechte
Lokalisierung im Objekt:an vorderster Kante im Körper des Baummenschen
Ausführung Körper:Halbfigur
Ausführung Kopf:annähernd Frontalansicht
Ikonografischer Kontext:Wirt in einer Schenke
Blick/Mimik:verinnerlichter Blick
Gesten:rechte Hand stützt den Kopf; linke liegt auf der Brüstung auf
Körperhaltung:Melancholiegestus
Interaktion/Raum-, Bildraumbeziehung/ Alleinstellungsmerkmal:Figur an vorderster Ebene des geöffneten Körpers (Eikörper) des Baummannes; kehrt dem Geschehen innerhalb dieses Areals den Rücken zu; beugt sich scheinbar über den Rand;
Kleidung:Sendelbinde als Kopfbedeckung
Zugeordnete Bildprotagonisten:alle Protagonisten in der Schenke; der Baummann als ganzes

Forschungsergebnis: Bosch, Hieronymus

Künstler des Bildnisses:Bosch, Hieronymus
Status:kontrovers diskutiert
Typ Autor/in Jahr Referenz Seite Anmerkungen
Erstzuschreibung Daniel 1947 Daniel 1947 – Hieronymus Bosch 7 -
Skeptisch/verneinend Mosmans 1947 Mosmans 1947 – Jheronimus Antoniszoon van Aken 41f -
Bejahend Tolnay, de 1966 Tolnay 1966 – Hieronymus Bosch 32, 362 -
Skeptisch/verneinend Van Dijck 2001 Dijck 1.9.–11.11.2001 – Hieronymus van Aken 15f -
Bejahend Calabrese 2006 Calabrese 2006 – Die Geschichte des Selbstporträts 57
Details
Calabrese führt zwei mögliche Selbstdarstellungen im Gemälde gleichwertig neutral an.
Skeptisch/verneinend Legner 2009 Legner 2009 – Der Artifex 482, 484 -
Skeptisch/verneinend Gigante 2010 Gigante 2010 – Autoportraits en marge 131 -

Daniel (1947) hegt keinen Zweifel daran, dass die Figur im Körper des Baummenschen im Garten der Lüste ein Porträt von Hieronymus Bosch darstellt. Ebenso schätzt er den Mann auf der Brücke im linken Flügel der Versuchungen des hl. Antonius mit großer Sicherheit als ein Selbstbildnis ein. Diese Porträts veranlassen den Autor, den Maler als sensitiv und melancholisch zu charakterisieren.1

Mosmans (1947) lehnt die Identifizierungen des Kopfs des Baummannes sowie der Figur, die aus dem Eikörper in der Höllentafel blickt, als Selbstdarstellungen ab. Er argumentiert, dass diese beiden keine überzeugenden Übereinstimmungen mit den Bildnissen in der Anbetung der Könige und in der Dornenkrönung im Escorial aufweisen, die er als Porträts von Bosch akzeptiert. Mosman hält es zudem für unmöglich, dass sich der Maler zweimal auf derselben Tafel porträtiert haben könnte, weshalb zumindest eine dieser Identifizierungen abgelehnt werden müsse.2

De Tolnay (1966) bewertet den Mann, der sich aus der Taverne im Körper des Baummenschen lehnt, als eine Selbstdarstellung Boschs in Melancholiegestus. Diese Interpretation eröffne eine neue Deutungsebene: Laut de Tolnay träumt der Künstler das von Lüsternheit erfüllte Geschehen inmitten von Dämonen und Hexen, dass sich um ihn abzeichnet. Dadurch offenbare er seine Seele als einen Ort des Leidens und der Qual.3

Van Dijck (2001) beschäftigt sich in seinen Ausführungen zur Biografie von Hieronymus Bosch und der Suche nach Selbstdarstellungen im Sinne einer Rekonstruktion der Vita und Identität des Malers auch mit Fragen zur Glaubhaftigkeit porträthafter Darstellungen bzw. vorgeschlagener Selbstporträts des Künstlers. Nach einer Auflistung von in der Forschung diskutierten Beispielen (einschließlich des hier vorgestellten), die er alle als unglaubwürdig einstuft, resümiert er unter Bezugnahme auf Mosmans, dass nur die Bildnisse in der Dornenkrönung Christi im Escorial und in der Anbetung der Könige eventuell als Selbstbildnisse interpretiert werden könnten.4

Calabrese (2006) merkt zunächst an, dass es sich bei der Höllentafel von Bosch um das einzige Gemälde handelt, das allgemein als Selbstdarstellung anerkannt ist. Diese verwirrende Aussage, die impliziert, dass das ganze Gemälde als Selbstdarstellung gemeint ist, wird von Calabrese durch einen Vergleich mit der Selbstdarstellung von van Eyck im Arnolfini-Spiegel ergänzt: Die bei van Eyck durch die Darstellung als kleine Randfigur zum Ausdruck kommende Selbstironie steigere sich bei Bosch ins Sarkastische. Ohne eine Präferenz auszusprechen, führt der Autor in der Folge zwei polarisierende Interpretationen auf, nach denen entweder das realistische Gesicht des Baummannes oder der nahezu bildzentrale kleine Mann im Eikörper desselben als eine Selbstdarstellung interpretiert werden kann.5

Legner (2009) hebt die Schwierigkeiten hervor, die mit der Identifizierung von Selbstporträts verbunden sind und stuft entsprechende Versuche bei Bosch als „spekulativ“ ein. Der Autor behandelt verschiedene Selbstporträtthesen wertneutral und führt im Fall des Baummenschen im Höllenflügel im Prado beide als Selbstinszenierungen vorgeschlagenen Figuren an: den Kopf des Baummenschen sowie den kleinen Mann, der aus seinem Eikörper herausschaut.6

Gigante (2010) schätzt Thesen zu möglichen Selbstdarstellungen von Bosch, einschließlich des hier besprochenen Bildnisses, als reine Vermutungen ein.7

Verweise

  1. Daniel 1947, 7. Zu weiteren Hinweisen im nachfolgenden Forschungsstand auf Bildnisse in der Anbetung der Könige, der englischen und spanischen Dornenkrönung und dem Heuwagentriptychon vgl. den Einleitungstext zum Maler.↩︎

  2. Mosmans 1947, 41f.↩︎

  3. Tolnay 1966, 32, 362.↩︎

  4. Dijck 2001, 15f.↩︎

  5. Calabrese 2006, 57.↩︎

  6. Legner 2009, 482, 484.↩︎

  7. Gigante 2010, 137.↩︎

Hieronymus Bosch in der Rolle des Wirtes?

Wie Christus in der Paradiesesdarstellung auf dem linken Seitenflügel nimmt auch der Baummann in der Höllendarstellung des rechten Flügels direkten Blickkontakt mit dem Bildpublikum auf. In beiden Fällen steht dabei ein Werben um Aufmerksamkeit im Zentrum. Der Baummann ist fest im Gemälde verankert und blickt aus verdrehten, melancholischen Augen. Auf seinem Kopf thront ein überdimensionaler Dudelsack in leuchtendem Rosarot, der aus dem Bildgefüge hervorsticht. Dieses Motiv wird als sexuelles Symbol gedeutet und liefert die Musik für einen höllischen Tanz, den nackte Menschen unter Anleitung eines Dämons aufführen.

An der vordersten Kante des geöffneten Rumpfs dieses Wesens – einem Raum, der als Schenke interpretiert wird – lenkt die kleine Figur des Wirts die Aufmerksamkeit auf sich. Mit aufgestütztem Kopf und gesenktem Blick lehnt er in melancholischer Haltung am Rand dieser Gaststube, als wolle er sich vom Geschehen abwenden – sei es von dem unheimlichen Gelage dämonischer Figuren hinter ihm oder von den Szenen außerhalb des abgegrenzten Bereichs der Gaststube. Dieser erscheint wie ein Bild-im-Bild und übt eine nahezu sogartige Anziehungskraft auf die Betrachtenden aus.

Für das Oeuvre Boschs wurden zahlreiche Figuren als mögliche Selbstdarstellungen vorgeschlagen, doch konnte bislang keine zweifelsfrei als solche identifiziert werden.1 Das gilt auch für den Wirt, für den eine solche Deutung jedoch erwogen werden kann – insbesondere im Abgleich mit dem Mann am linken Bildrand in der Kreuztragung Christi, der eine ähnliche physiognomische Erscheinung zu haben scheint. Unabhängig von diesem zweifellos wenig belastbaren Identifizierungsversuch –zumal die Figur des Wirtes nicht differenziert ausgeführt ist – lassen sich zwei weitere Argumente anführen, die die Möglichkeit einer Selbstinszenierung in dieser Rolle stützen: Der Mann ist im Gestus der Melancholie dargestellt, und seine Erscheinung ist dimensional zurückgenommen. Das sind beides Merkmale, die als Kriterien für integrierte Selbstdarstellungen erkannt wurden.

Wie in der Aristoteles zugeschriebenen Schrift Problemata physica dargelegt, definiert sich das Künstlergenie über sein melancholisches Temperament, wofür ein körpersprachliches Merkmal erschlossen und dessen Einsatz als Möglichkeit für Selbstdarstellungen genutzt wurde.2 So löste der aufgestützte Kopf eines Denkers im kulturellen Kontext der Zeit „metaphorisches Sehen“ bei den Rezipierenden aus und wurde als Ausdruck künstlerischer Selbstverortung erkannt.3 Solche Gesten waren sowohl im Süden bekannt, wie etwa Fra Filippo Lippi in der Marienkrönung oder in der Disputation in der Synagoge zeigt, zählten aber auch zum Standardrepertoire im Norden. inspiriert durch die Gesundheitslehre des Marsilius Ficinus4stellte etwa Albrecht Dürer in seinem Lehrbuch der Malerei die Kunst im allgemeinen sowie das Temperament eines Künstlers im Besonderen in Zusammenhang mit dem Geist der Melancholie.5 Mit Dürer wurde die Melancholie der Künstlerpersönlichkeit als soziales Phänomen von der Gesellschaft akzeptiert.6 Im Oeuvre des Malers finden sich viele Verbildlichungen des melancholischen Gemüts, herausragend etwa im Stich Melencolia I,7 aber auch im Gemälde Christus als Schmerzensmann,8 das teils als Selbstinszenierung des Meisters diskutiert wird.

Nach aktuellem Wissenstand sind zwar keine integrierten Selbstbildnisse in Melancholiegestus für die nördlichen Niederlande zur Zeit Boschs bekannt, dennoch scheint es plausibel, dass der Maler mit diesem ikonografischen Konzept vertraut war. Folgt man den Ausführungen von Hans-Joachim Raupp in seinem Standardwerk zu niederländischen Künstlerbildern im 17. Jahrhundert,9 so treten die frühesten Selbstdarstellungen als Melancholiker in der Region erst in dieser Zeit auf. Ein Beispiel hierfür ist das autonome grafische Selbstporträt von Jacob Adriaensz Backer aus dem Jahr 1638,10 der in Amsterdam wirkte.11 Es liegt jedoch nahe, dass auch in den nördlichen Niederlanden eine Vorgeschichte des Motivs existiert. Glaubt man hingegen Justus Müller Hofstede, so tendierten niederländische Künstler dazu, sich im sogenannten Humilitasgestus, in einer abgewerteten bzw. zurückgenommenen Position in ihre Gemälde zu integrieren.12 Zwar stellt dies kein allgemeingültiges Kriterium für niederländische Bildnisse dar, doch lässt es sich in vielen Fällen beobachten. Ein herausragendes Beispiel hierfür ist das mutmaßliche Selbstbildnis von Hans Memling auf dem linken Seitenflügel des Donne-Triptychons.

Im Fall von Boschs Wirt, der Melancholie- und Demutsgestus vereint, scheint es sich jedenfalls um eine symbolisch aufgeladene Bildfigur zu handeln – möglicherweise um den Maler selbst. Die Identifikation des Künstlers mit dem Kopf des Baummannes hingegen bleibt eine These ohne konkrete Anhaltspunkte.

Verweise

  1. Vgl. weiterführend den Einleitungstext zum Maler Hieronymus Bosch.↩︎

  2. Zum aristotelischen Melancholiebegriff vgl. Aristoteles (hg. von Grumach 1962), 711–727, Problemata Physica, Buch XXX, 1–14.↩︎

  3. Vgl. Horký, 102–108, bes. 104f; Krabichler 2024, 137f.↩︎

  4. Ficini 1498.↩︎

  5. Dürer (hg. von Rupprich 1966), bes. 92f, Lehrbuch der Malerei, 2.↩︎

  6. Vgl. Franke 2012, 276 (Anm. 904). Zum Künstler als melancholisches Genie vgl. u. a. Klibansky/Panofsky/Saxl 1999; Panofsky (hg. von Sander/Kemperdick 2001), 336–351; Wittkower 1969, 101–103; Wittkower/Wittkower 1989, 116–148.↩︎

  7. Albrecht Dürer, Melencolia I, 1514, Amsterdam, Rijksmuseum.↩︎

  8. Albrecht Dürer, Christus als Schmerzensmann, 1493/94, Karlsruhe, Staatliche Kunsthalle. Zu Dürers Schmerzensmann als Selbstinszenierung und einem weiterführenden Vergleich mit Hieronymus Bosch vgl. Boczkowska/Wierciński 1981, 193–198, bes. 198.↩︎

  9. Raupp 1984.↩︎

  10. Jacob Adriaensz Backer, Selbstporträt, 1638, Wien, Albertina.↩︎

  11. Zum melancholischen Künstler und dem verwandten Typ des pensiero mit Fokus auf die Entwicklungen im 17. Jahrhundert in den Niederlanden vgl. Raupp 1984, 226–241, zu Backer bes. 229.↩︎

  12. Vgl. Müller Hofstede 1998.↩︎

Literatur

Aristoteles: Aristoteles Werke in deutscher Übersetzung. Band 19: Problemata physica, hg. von Ernst Grumach, Berlin 1962.
Baldass, Ludwig: Hieronymus Bosch, New York 1960.
Belting, Hans: Hieronymus Bosch. Garden of Earthly Delights, München u. a. 2002.
Benesch, Otto: Hieronymus Bosch and the Thinking of the Late Middle Ages, in: Konsthistorisk tidskrift, 26. Jg. 1957, 103–127.
Bianconi, Piero: Bramantino (I maestri del colore, 81), Mailand 1965.
Boczkowska, Anna/Wierciński, Andrzej: Hieronymus Bosch's Self-Portraits, in: Chrościcki, Juliusz A. (Hg.): Ars auro prior. Studia Ioanni Białostocki sexagenario dicata, Warschau 1981, 193–199.
Bosman, Anthony: Hieronymus Bosch, London 1962.
Brion, Marcel: Bosch (Editions d’histoire et d’art, 8), Paris 1938.
Buzzati, Dino/Cinotti, Mia: L'opera completa di Bosch (Classici dell'arte, 2), Mailand 1968.
Calabrese, Omar: Die Geschichte des Selbstporträts, München 2006.
Carroll, Margaret D.: Hieronymus Bosch. Time and Transformation in „The Garden of Earthly Delights“, New Haven u. a. 2022.
Daniel, Howard: Hieronymus Bosch, New York 1947.
Dijck, G. C. M. van: Hieronymus van Aken / Hieronymus Bosch: His Life and ‚Portraits‘, in: Koldeweij, Jos/Vermet, Bernard/van Kooij, Barbera (Hg.): Hieronymus Bosch. New Insights Into His Life and Work (Ausstellungskatalog, Rotterdam, 1.9.–11.11.2001), London 1.9.–11.11.2001, 9–16.
Dürer, Albrecht: Schriftlicher Nachlaß. Zweiter Band, hg. von Hans Rupprich, Berlin 1966.
Eisler, C. T.: The genius of Jacopo Bellini. The complete Paintings and Drawings, New York u. a. 1989.
Ficini, Marsilii: De vita libri tres, Florenz 1498.
Franke, Susanne: Raum und Realismus. Hugo van der Goes’ Bildproduktion als Erkenntnisprozess, Frankfurt am Main u. a. 2012.
Gigante, Elisabetta: Autoportraits en marge. Images de l'auteur dans la peinture de la Renaissance (Thèse de Doctorat, École des Hautes Études en Sciences Sociales), Paris 2010.
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