Inhaltsverzeichnis
Objekt
Bildrechte
| Detailtitel: | Schutzmantelmadonna (Haupttafel von: Misericordia-Polyptychon) |
| Alternativtitel Deutsch: | Altar der Confraternità della Misericordia; Polyptychon der Schutzmantelmadonna; Misericordia-Altar |
| Titel in Originalsprache: | Madonna della Misericordia; Polittico della Misericordia |
| Titel in Englisch: | Polyptych of the Misericordia; Polyptych of Our Lady of Mercy |
| Datierung: | 1445 bis 1460 |
| Ursprungsregion: | italienischer Raum |
| Lokalisierung: | Italien; Sansepolcro; Museo Civico |
| Medium: | Altarbild |
| Material: | Tempera |
| Bildträger: | Holz |
| Maße: | Höhe: 134 cm; Breite: 91 cm |
| Maße Anmerkungen: | Das Retabel misst insgesamt etwa 273 x 330 cm. Der originale Altar wurde in seine Einzelteile zerlegt und später wieder zusammengefügt. Das Polyptychon setzt sich aus drei Haupttafeln, fünf Tafeln des Aufsatzes, seitlichen Rahmenfeldern und einer Predella zusammen. |
| Ikonografische Bezeichnung: | Schutzmantelschaft |
| Iconclass: | 11F34 – Mary protecting mankind against the plague, e.g. by hiding people under her cloak; 'Pestbild' |
| Signatur Wortlaut: | ohne |
| Datierung Wortlaut: | ohne |
| Auftraggeber/Stifter: | Bruderschaft der Santa Maria della Misericordia von Sansepolcro |
| Provenienz: | ursprünglich Kapelle des Ospedale della Misericordia in Sansepolcro; nach Aufhebung der Bruderschaft Kirche San Roco 1807; seit 1901 Museum von Sansepolcro |
| Zugänglichkeit zum Entstehungszeitpunkt: | öffentlich |
Bildnis 1
Bildrechte
| Lokalisierung im Objekt: | dritte Figur von links |
| Ausführung Körper: | Schulterstück |
| Ausführung Kopf: | Dreiviertelporträt |
| Ikonografischer Kontext: | einer der betenden Gläubigen, die unter dem Mantel Marias Schutz suchen |
| Blick/Mimik: | kommunizierender Blick in Richtung Maria |
| Gesten: | Hände zum Gebet gefaltet |
| Körperhaltung: | kniend (Körper nicht sichtbar) |
| Interaktion/Raum-, Bildraumbeziehung/ Alleinstellungsmerkmal: | Körper von der vordersten Figur im verlorenen Profil stark überschnitten; Kopf teilweise überschnitten von der Figur mit Kapuze links, deren dunkle Färbung das helle Inkarnat wirkungsvoll hervortreten lässt |
| Zugeordnete Bildprotagonisten: | Figur gehört zur Gruppe betender Männer zur Rechten Marias; zu den Identifizierungen der Figur im Profil siehe Figur 2 in diesem Objekt |
Forschungsergebnis: Francesca, Piero della
| Künstler des Bildnisses: | Francesca, Piero della |
| Status: | kontrovers diskutiert |
| Status Anmerkungen: | Mehrere Forscher vermuten in der aufblickenden Figur ein Selbstporträt, viele äußern sich nicht explizit zu der Figur. |
| Typ | Autor/in | Jahr | Referenz | Seite | Anmerkungen |
|---|---|---|---|---|---|
| Erstzuschreibung | Coleschi | 1886 | Coleschi 1886 – La storia di Sansepolcro | 173f | - |
| Bejahend | Waters | 1901 | Waters 1901 – Piero della Francesca | 52 | - |
| Bejahend | Mancini | 1917 | Del Vita 1920 – Il volto di Pier della | zitiert bei Del Vita 1920, 109 | - |
| Bejahend | Del Vita | 1920 | Del Vita 1920 – Il volto di Pier della | 109 | - |
| Skeptisch/verneinend | Longhi | 1927 | Longhi 2012 – Piero della Francesca | 161 | - |
| Bejahend | De Vecchi | 1967 | De Vecchi (Hg.) 1967 – L'opera completa di Piero della | 98 | - |
| Bejahend | Clark | 1969 | Clark 1969 – Piero della Francesca | 223 | - |
| Bejahend | Bussagli | 1992 | Bussagli 1992 – Piero della Francesca | 20f | - |
| Bejahend | Bertelli | 1992 | Bertelli 1992 – Piero della Francesca | 24 | - |
| Bejahend | Battisti | 1992 | Battisti 1992 – Piero della Francesca | 610 | - |
| Bejahend | Trenti | 1992 | Trenti 1992 – Indiscrezioni su Piero | 18 | - |
| Bejahend | Benolli | 1994 | Benolli 1994 – Die Porträts des Piero Della | 54f | - |
| Bejahend | Uguccioni | 1995 | Uguccioni 1995 – Ritratti e autoritratti | 160 | - |
| Skeptisch/verneinend | Roeck | 2007 | Roeck 2007 – Mörder, Maler und Mäzene | 89–92 | - |
| Bejahend | Angelini | 2014 | Angelini 2014 – Piero della Francesca | 248 | - |
| Skeptisch/verneinend | Mercier | 2021 | Mercier 2021 – Piero della Francesca | 157 | - |
1886 wird ein Selbstporträt in einem der Gläubigen der Schutzmantelmadonna von Coleschi identifiziert.1
1901 vermutet Waters im Misericordia-Altar indirekt ein Selbstporträt Pieros in der aufblickenden Figur. Er stellt eine frappante Ähnlichkeit zum schlafenden Soldaten der Auferstehung in Urbino fest, der ebenso mit nach vorne gewandtem Gesicht dargestellt wird und auch als Selbstdarstellung Pieros gilt: „[...] and at the back a man whose upturned face bears an extraordinary resemblance to that of the sleeping soldier, represented full face, and fabled to be a likeness of the painter himself, in the fresco of the Ressurrection, in the Municipo hard by.”2
Auch Mancini geht in seinen Kommentaren zu Vasari 1917 von einem Selbstbildnis Pieros in der Figur des aufblickenden Mannes aus und beruft sich auf die lokale Überlieferung.3
1920 übernimmt Del Vita die als traditionell erachtete Deutung als Selbstporträt und identifiziert davon ausgehend die anderen Männer als Familienmitglieder Pieros. Er argumentiert dabei mit der übereinstimmenden Zahl von vier männlichen Familienmitgliedern, die mit der Bruderschaft in Verbindung stehen. Für eine Darstellung Pieros in der Figur des aufblickenden Betenden sprechen nach Del Vita das übereinstimmende Alter von ca. dreißig Jahren und die auffallende frontale Position: „Ed e naturale che Piero si ritrasse nel personaggio più in vista e posto di fronte.“4 Physiognomische Auffälligkeiten wie lockiges Haar, runde Augen und rundliche Gesichtsform motivieren den Autor, drei weitere Selbstbildnisse des Künstlers zu identifizieren: eines in der Gestalt eines der schlafenden Soldaten in der Auferstehung, eines in der aus dem Bild blickenden Figur beim Treffen der Königin von Saba mit Salomon und ein autonomes in Gestalt des Herkules. Physiognomische Abweichungen führt er auf altersbedingte Veränderungen zurück.5
1927 widerspricht Longhi vehement allen Identifikationen von Selbstporträts. Für ihn handelt es sich allesamt um Mutmaßungen, die auf einer lokalen Überlieferung beruhen und jeglicher wissenschaftlichen Grundlage entbehren.6
1967 beruft sich de Vecchi auf die von Colsechi erwähnte alte Überlieferung und sieht in der aufblickenden Person der Misericordia-Tafel ein Selbstporträt: „La tradizione che il devoto con la testa all’indietro, di scorcio, sia un autoritratto sembra abbastanza antica.“7 Auch er konstatiert Ähnlichkeiten zum Holzschnitt bei Vasari und zum schlafenden Soldaten der Auferstehung.
1969 sieht Clark in dieser Zuweisung eine antiquierte Überlieferung: „The local tradition that the man with his head thrown back is a self-portrait of Piero seems to be of considerable antiquitiy.”8
1992 geht auch Bussagli von Ähnlichkeiten mit dem Coriliano-Holzschnitt bei Vasari aus. Er weist neben dem schlafenden Soldaten in der Auferstehung und dem aufblickenden Mann der Schutzmantelmadonna auch der herausblickenden Figur aus dem Gefolge König Salomons bei dessen Begegnung mit der Königin von Saba in Arezzo Selbstporträtcharakter zu.
Auch Bertelli übernimmt 1992 die ältere Zuweisung als Selbstporträt und beruft sich auf Coleschi.9 Er sieht darin das älteste Selbstporträt Pieros und identifiziert wegen der Ähnlichkeit zu diesem den Beamten in der Kreuzauffindung in Arezzo als zweites.10 Anders als Roeck 2007 vermutet,11 meint Bertelli aber die „Figur des hintersten Gläubigen unter der linken Mantelhälfte der Madonna“, wenn er von einem Selbstbildnis Pieros spricht, und nicht die Figur in verlorenem Profil davor.12
Battisti vermutet 1992 in dem Misericordia-Porträt des Aufblickenden ebenfalls eines von vier Selbstporträts Pieros, ohne dabei weitere Begründungen anzugeben als allfällige Ähnlichkeiten. Die anderen drei sind wiederum der Soldat der Auferstehung, der Herausblickende aus dem Gefolge König Salomons in Arezzo und schließlich eine (Figur in der Kopie einer Schlachtendarstellung Pieros, die sich heute in London befindet. Battisti liefert keine Nachweise für seine Zuordnungen.13
1992 erwähnt Trenti das Porträt des Aufblickenden auf der Misericodia-Tafel als eines von drei integrierten Selbstporträts im Werk Pieros, die er für plausibel hält. Er beruft sich in allen drei Fällen auf die Überlieferung, die von der Forschung mehr oder weniger akzeptiert werde, „la tradizione […] più o meno accetata da tutti i critici“.14 Ein Indiz für die Ähnlichkeit der Selbstporträts liefert ihm jeweils eine gut sichtbare Schwellung am Hals, „la tumefazione in sede ioidea“.15
In ihrer Diplomarbeit von 1994 behandelt auch Benolli das Selbstporträt auf dem Misericordia-Altar und stellt es in Zusammenhang mit den Selbstdarstellungen in der Auferstehung und den beiden im Kreuzzyklus von Arezzo Begegnung Königs Salomons mit der Königin von Saba und Kreuzauffindung. Die Autorin sieht trotz der Divergenzen in Alter und Haarfarbe der dargestellten Personen eine große Ähnlichkeit untereinander und zum Holzschnitt bei Vasari (Vgl. Vorbemerkung Piero della Francesca). Verbindende Elemente seien die hervortretenden Augen und der dicke, kropfähnliche Hals, die sie mit der These des Mediziners Trenti als Merkmale einer Schilddrüsenerkrankung Pieros erklärt.16 Aus der Tatsache, dass die erwähnten Selbstbildnisse nicht den damals für Porträts üblichen Profildarstellungen entsprechen, sondern in schwieriger zu erfassenden Dreiviertel- bzw. Unteransichten dargestellt sind, schließt sie, es könne sich um malerische Selbstexperimente Pieros handeln. Dieser könnte an sich selbst die perspektivischen Möglichkeiten der Verkürzungen eines Gesichtes durchexerziert haben.17
Uguccioni argumentiert 1995 mit physiognomischen Ähnlichkeiten, „gli occhi tondi e il viso anch'esso tondeggiante“, die den Aufblickenden der Misericordia und den Schlafenden der Auferstehung als Selbstporträts rechtfertigen. Diese charakteristischen Züge findet er dann auch in Vasaris Holzschnitt reproduziert.18
2007 verwirft Roeck die überlieferte Zuweisung des Selbstporträts. Er identifiziert vielmehr den älteren Mann links außen als Selbstporträt. Der Autor argumentiert mit dem Alter des Dargestellten. Das Geburtsjahr Pieros könne nach neuen Forschungen zehn Jahre nach hinten verschoben werden und das qualitätvolle Altarblatt könne kaum das Werk eines unerfahrenen Künstlers sein.19
2014 erwähnt Angelini wieder die traditionelle Zuweisung als Selbstporträt: „Il volto dell'uomo visto frontalmente in preghiera è stato tradizionalmente identificato con un autoritratto del maestro.“20 Er modifiziert allerdings den Porträtcharakter der dargestellten Gläubigen, die mehr Personentypen darstellen sollen als individuelle Persönlichkeiten.21
2021 erklärt Mercier alle Zuweisungen, die sich auf Ähnlichkeiten zum Vasari-Bildnis berufen, als Konzessionen an die Überlieferung. Diese haben sich durchgesetzt, weil die Darstellung eines jungen Mannes mit Locken und Kappe der romantischen Ideal-Vorstellung eines Künstlers entspreche, sie seien aber wissenschaftlich nicht zu begründen.22
Verweise
Coleschi 1886, 173f.↩︎
Waters 1901, 52.↩︎
Zitiert bei Del Vita 1920, 109.↩︎
Ebd.↩︎
Ebd., 112.↩︎
Longhi 2012, 162.↩︎
De Vecchi 1967, 98.↩︎
Clark 1969, 223.↩︎
Bertelli 1992, 175.↩︎
Ebd., 24f.↩︎
Roeck 2007, 90.↩︎
Bertelli 1992, 175.↩︎
Battisti 1992, 610.↩︎
Trenti 1992, 18.↩︎
Ebd., 23.↩︎
Benolli 1994, 55f.↩︎
Benolli 1994, 57f.↩︎
Uguccioni 1995, 160.↩︎
Roeck 2007, 89.↩︎
Angelini 2014, 268 (Anm. 34).↩︎
Ebd., 248.↩︎
Mercier 2021, 157.↩︎
Bildnis 2
Bildrechte
| Lokalisierung im Objekt: | erste Figur von links |
| Ausführung Körper: | Ganzfigur kniend |
| Ausführung Kopf: | im Profil |
| Ikonografischer Kontext: | Figur betet zusammen mit anderen Gläubigen zur Schutzmantelmadonna |
| Blick/Mimik: | kommunizierender Blick zu Maria |
| Gesten: | Hände zum Gebet gefaltet |
| Körperhaltung: | kniend |
| Interaktion/Raum-, Bildraumbeziehung/ Alleinstellungsmerkmal: | Figur befindet sich am äußerst linken Bildrand; Beine ragen in die benachbarte Bildtafel und erweitern somit den Bildraum über den Rahmen der Tafel hinaus; Figur schließt Gruppe der betenden Männer zur Rechten der Madonna ab; nicht vollständig vom Mantel der Madonna bedeckt; von der knieenden Figur im verlorenen Profil rechts von ihr leicht überschnitten und somit gut sichtbar |
| Kleidung: | zeitgenössische Kleidung in leuchtend hellem Rot |
| Zugeordnete Bildprotagonisten: | Figur gehört zur Gruppe betender Männer zur Rechten Marias; zu den Identifizierungen der aufblickenden Figur siehe Figur 1 in diesem Objekt |
Forschungsergebnis: Francesca, Piero della
| Künstler des Bildnisses: | Francesca, Piero della |
| Status: | kontrovers diskutiert |
| Andere Identifikationsvorschläge: | Mitglied der Familie Franceschi; Giovanni Bacci; Prior des Spitals; Jacopo Anastagi; s. u. |
| Typ | Autor/in | Jahr | Referenz | Seite | Anmerkungen |
|---|---|---|---|---|---|
| Erstzuschreibung | Roeck | 2007 | Roeck 2007 – Mörder, Maler und Mäzene | 90 | - |
| Skeptisch/verneinend | Fornasari | 2008 | Fornasari 2008 – Il racconto della Historia Salutis | 134 (Anm. 27) | - |
| Skeptisch/verneinend | Angelini | 2014 | Angelini 2014 – Piero della Francesca | 248 | - |
| Skeptisch/verneinend | Banker | 2014 | Banker 2014 – Piero Della Francesca | 72 | - |
| Bejahend | Mercier | 2021 | Mercier 2021 – Piero della Francesca | 162 | - |
Roeck sieht 2007 in der knieenden Figur ganz links nicht einen von Piero öfters wiederholten Personentypus, sondern das Porträt einer konkreten historischen Person.1 Er konstatiert zudem eine frappante Ähnlichkeit mit einer Assistenzfigur aus der Enthauptung Chosroes in Arezzo und mit der Figur in Brokat aus der Geißelung in Urbino. Einziges verbindendes Element der drei Werke sei die Urheberschaft Pieros, daher käme nur eine Interpretation als Selbstporträt in Frage: „Die Frage bleibt: Welche Gemeinsamkeiten haben die drei Kunstwerke […], die erklären könnte, daß drei einander sehr ähnliche und daher vermutlich identische Personen darauf abgebildet sind? […] Es gibt darauf nur eine wirklich naheliegende Antwort: Piero della Francesca selbst.“2 Das Argument des nicht adäquaten Lebensalters gerade beim Misericordia-Altar, der lange als Jugendwerk gegolten hatte, entkräftet er mit dem Hinweis auf neuere Publikationen, die davon ausgehen, dass Piero schon um 1411/13 geboren sei.3 Pentimenti bei den Darstellungen auf der Misericordia-Tafel und auf der Geißelung erklärt er sich mit den Schwierigkeiten, den eigenen Hinterkopf anhand von Spiegelungen selbst zu malen. Diese sind ihm weitere Indizien für eine Deutung als Selbstporträts.4
Fornasari glaubt 2008 in der Profildarstellung Giovanni Bacci zu erkennen, der mehrmals im Werk Pieros erscheine, „[Giovanni Bacci] più volte ritratto da Piero della Francesca“.5 Sie erwähnt kein Selbstbildnis Pieros auf dem Misericordia-Altar, wohl aber im Kreuzzyklus von Arezzo.
Banker sieht 2014 in der auffallenden Figur im hellroten Kleid die gleiche Person, die im Kreuzzyklus von Arezzo und in der Geißelung erscheint und identifiziert sie mit Jacopo Anastagi: „We have encountered the man in vermilion as Jacopo Anastagi in the Rimini panel and the Arezzo Legend of the True Cross, and shall encounter him again in our discussions of The Flagellation of Christ.“6
Angelini meint ohne Angabe von Gründen den damaligen Prior des Ospedale della Misericordia in der Figur des älteren Mannes zu erkennen: „forse il volto del priore di allora“.7
2021 übernimmt Mercier von Roeck die Identifizierung als Selbstporträt mit dem Argument, dass sich die Wiederholung des gleichen Porträts auf mehreren Werken über einen längeren Zeitraum am ehesten mit einem Selbstbildnis des Künstlers erklären lasse: „Seul Piero peut, en effet, se représenter lui-même dans des peintures très différentes qui s'échelonnent sur une période aussi longue […].“8 Die Identifizierung Bakers als Jacopo Anastagi verwirft er als unwahrscheinlich.9 Er bemerkt die gute Erkennbarkeit des Porträts vor dem schwarzen Hintergrund der Kapuze daneben. Mercier vermutet, der Künstler wollte die eigenhändige Ausführung mit einem Selbstporträt bestätigen und damit auch den Wert des Kunstwerks erhöhen.10
Typ oder Individuum – konstruierte Ähnlichkeiten
Das aus 23 Tafeln bestehende Polyptychon des Misericordia-Altars wurde von der Gesellschaft Sancta Maria de Misericordia oder Confraternità in Auftrag gegeben, einer Bruderschaft, zu der auch Mitglieder der Familie Pieros zählten.1 Die Mitteltafel des Altares zeigt eine Schutzmantelmadonna, die Gesichter der Schutzsuchenden unter dem Mantel besitzen Porträtcharakter, zwei von ihnen wurden als Selbstporträts des Künstlers gedeutet. Schon früh wurde in der mündlichen Überlieferung der zur Madonna aufblickende Schutzbefohlene unter dem Mantel als Selbstporträt des Künstlers identifiziert. Ende des 19. Jahrhunderts wurde diese Identifizierung auch schriftlich festgehalten, spätere ForscherInnen berufen sich meist auf den Sepolcro-Führer von Coleschi, auch wenn dieser nicht präzisiert, um welche Figur es sich handelt.2 Coleschi nennt keine Quellen für diese Zuweisung, sie dürfte aber mit der Ähnlichkeit zum Holzschnitt aus der Vasari-Ausgabe zusammenhängen bzw. zu dessen vermutetem Vorbild, der Tafel aus dem Besitz der Franceschi-Marini. Diese Tafel befand sich in Sansepolcro und somit konnte eine etwaige Ähnlichkeit der beiden Porträts leicht verifiziert werden. In beiden Fällen sehen wir den ersten „Piero-Typ“ , einen relativ jungen Mann mit rundlichem Gesicht, etwas hervortretenden Augäpfeln und lockigen Stirnfransen. Bis in die jüngste Zeit wird diese Zuweisung als möglich erachtet.3 Wenn wir zudem noch von der Authentizität der Tafel der Franceschi ausgehen, die inzwischen mit einer Tafel aus der Collezione Frescobaldini identifiziert wird, würde das die Zuweisung des Selbstporträts auf der Misericordia-Tafel verifizieren.
Weiter Argumente, die den Individualcharakter des Selbstporträts erhöhen, sind sehr spezifische Merkmale wie der geschwollene Hals und die hervortretenden Augäpfel, die der Mediziner Trenti auszumachen vermeint. Sie seien Folgen einer Überfunktion der Schilddrüse, einer Krankheit, die im Gebiet von Sansepolcro häufig anzutreffen sei.4 Inwieweit diesen ausgeprägten Zügen auf den Porträts eine spezielle krankhafte Veränderung zu Grunde liegt, kann nicht mit Sicherheit festgestellt werden.
Trotz aller Indizien und augenscheinlichen Ähnlichkeiten ist diesen Zuweisungen entgegenzuhalten, dass Piero mit Gesichtstypen arbeitet, die immer wieder in seinem Werk auszumachen sind. Agnelli spricht von typologisierenden Porträts auch auf der Misericordia-Tafel: „Anche in questo caso, più che di veri ritratti individuali, si tratta però di tipologie.“5 Gilbert vermutet darin ein bewusstes Vorgehen: „[I] volti dei personaggi di Piero della Francesca siano spesso simili, forse per via di una generale autoriflessione“.6 Clark sieht in den sich wiederholenden Gesichtern eine selbstreflexive Tätigkeit des Künstlers, der dadurch die Menschheit mittels Typen idealisiere: „But Piero, like all classic artists, raised humanity to a limited number of ideal types.“7
Wenn wir nun von einem Selbstporträt ausgehen, stellt sich die Frage, ob der Künstler sein eigenes Porträt einfach als Typ wiederholt, um einen Mann mit dunklen Locken ins Bild zu bringen, oder ob er es bewusst positioniert, um wiedererkannt zu werden und dadurch eine wie immer geartete Bildaussage zu tätigen. Im Falle der Misericordia-Tafel scheinen einige Indizien auf ein bewusst gesetztes Selbstporträt hinzuweisen. Die Figur befindet sich in unmittelbarer Nähe zur Madonna und durch die frontale Darstellung sind ihre Gesichtszüge gut zu erkennen. Individuelle Merkmale wie der geschwollene Hals scheinen sehr betont zu sein, was auf eine beabsichtigte Wiedererkennung schließen lässt. Auch der historische Kontext des Gemäldes macht die Zuweisung als Selbstporträt plausibel. Das Gemälde war für die Heimatstadt des Künstlers bestimmt. Mitglieder seiner Familie gehörten zur Bruderschaft, die den Auftrag gegeben hatte. Somit waren persönliche Bezüge zum Werk vorhanden.8 Schließlich unterstützt gerade die Ikonografie der Schutzmantelmadonna die immanente Aufforderung zur Erinnerung an den Dargestellten im Gebet, die sogenannte Memoria-Funktion.
Weniger überzeugend hingegen ist Roecks Identifizierung des knieenden Mannes in Rot am linken Bildrand als Selbstbildnis des Künstlers. Er schließt die Gruppe der Gläubigen nach links hin ab und hebt sich durch die leuchtend rote Farbe seiner Kleidung hervor. Diese konventionelle Darstellung als knieende, im Profil am Bildrand erfasste Figur, würde ihn eher als Stifter des Gemäldes ausweisen. Auch Angelini vermutet daher den Prior des Spitals in dieser Figur.9 Roecks Argumente beruhen auf Ähnlichkeiten zu anderen porträthaften Bildnissen im Werk Pieros und weniger auf einer Analyse des Gemäldes selbst.
Literatur
Zitiervorschlag:
Rupfle, Harald: Schutzmantelmadonna (Katalogeintrag), in: Metapictor, http://explore-research.uibk.ac.at/arts/metapictor/katalogeintrag/francesca-piero-della-schutzmantelmadonna-1445-bis-1460-sansepolcro-museo-civico/ (05.12.2025).