Inhaltsverzeichnis
Objekt
Bildrechte
| Detailtitel: | Beweinung Christi (Teil von Diptychon mit: Sündenfall) |
| Alternativtitel Deutsch: | Wiener Beweinung; Beweinung des Wiener Diptychons |
| Titel in Originalsprache: | Bewening van Christus |
| Titel in Englisch: | Lamentation; Lamentation of Christ |
| Datierung: | ab 1479 |
| Ursprungsregion: | altniederländischer Raum |
| Lokalisierung: | Österreich; Wien; Kunsthistorisches Museum |
| Lokalisierung (Detail): | Inventarnummer: 945; Gemäldegalerie |
| Medium: | Tafelbild; Diptychon |
| Bildträger: | Holz (Eiche) |
| Maße: | Höhe: 33,8 cm; Breite: 22,9 cm |
| Maße Anmerkungen: | ursprüngliches Diptychon in drei Teile zerlegt: Sündenfall, Hl. Genovefa (vom Sündenfall getrennte Rückseite), Beweinung Christi (die Rückseite der Beweinung Christi ist weitgehend verloren); gemeinsam mit Sündenfall als Diptychon präsentiert, Rahmenmaß gesamt: 41 x 61,5 x 6,5 cm |
| Ikonografische Bezeichnung: | Beweinung Christi |
| Iconclass: | 73D721 – lamentation over the dead Christ by his relatives and friends (Christ usually without crown of thorns) |
| Signatur Wortlaut: | ohne |
| Datierung Wortlaut: | ohne |
| Auftraggeber/Stifter: | ein Mitglied des burgundisch-niederländischen oder französischen Adels; Erzherzog Maximilian von Habsburg; Erzherzog Maximilian von Habsburg mit Maria von Burgund |
| Provenienz: | 1659 Diptychon im Inventar der Brüsseler Galerie von Erzherzog Leopold Wilhelm als Arbeit von Jan van Eyck beschrieben; nach 1659 in der Kunstsammlung Schloss Ambras gelistet, dort Trennung der Tafeln spätestens 1780, rechter Flügel mit der Beweinung Christi kam ins Obere Belvedere, Wien (linker Flügel mit dem Sündenfall kam ins Untere Belvedere, die Tafel der Hl. Genovefa blieb bis 1884 in Ambras); 1884 wurden die Tafeln im Kunsthistorischen Museum Wien wieder zusammengeführt (Gemäldegalerie); 1887 Zuschreibung an Hugo van der Goes |
| Zugänglichkeit zum Entstehungszeitpunkt: | unbekannt |
Die Datierung resultiert aus den Ergebnissen einer dendrochronologischen Untersuchung.1 Die verlorene Rückseite der Beweinung Christi zeigte vermutlich ein Wappen vom Auftraggeber oder von einem späteren Besitzer.2 Überlegungen zum Auftraggeber variieren, vorgeschlagen ist ein Mitglied des burgundisch-niederländischen oder französischen Adels,3 Erzherzog Maximilian von Habsburg4 (evtl. als gemeinsame Stiftung mit seiner Gattin Maria von Burgund).5
Bildnis 1
Bildrechte
| Lokalisierung im Objekt: | erste Figur rechts unten |
| Ausführung Körper: | Ganzfigur kniend |
| Ausführung Kopf: | Dreiviertelporträt |
| Ikonografischer Kontext: | Nikodemus als Teil des Figurenpersonals bei der Beweinung Christi |
| Blick/Mimik: | verinnerlicht wirkender Blick nach links vorne und unten, evtl. in Richtung Hut/Dornenkrone links vor der Figur am Boden |
| Gesten: | hält mit seiner Rechten das Leichentuch Christi; selbstbezeichnende Geste mit der linken Hand |
| Körperhaltung: | kniet vermutlich auf dem rechten, nicht sichtbaren Bein am Boden; linkes Bein angewinkelt; Körper aufrecht und zur Bildmitte hin ausgerichtet; Kopf nach links gedreht, folglich aus dem Bild orientiert |
| Interaktion/Raum-, Bildraumbeziehung/ Alleinstellungsmerkmal: | in der rechten vorderen Bildecke an einer Schwelle zum BetrachterInnenraum, seitlich vom Bildrand überschnitten; zusammen mit der ebenfalls zeitgenössisch gekleideten Maria Magdalena im gegenüberliegenden Bildbereich eine die Situation rahmende, ins Gemälde einführende Figur; wie Maria Magdalena in einer „verkleinernden“ Körperhaltung (Nikodemus kniet, Maria Magdalena sitzt) am Boden; am Beginn (bzw. am Ende) einer doppelreihigen, diagonalen Figurenkonstellation; evtl. Blick zum abgenommenen Hut mit einer Dornenkrone am Boden; über die körperliche Nähe, das Greifen des Leichentuchs und eine Berührung mit dem linken Arm Jesu in enger Verbindung mit dem toten Christus – damit die transzendente Ebene berührend; steht über die Farbe des Mantels der Gottesmutter nahe (die beiden Kleidungsstücke umrahmen Christus in Blau); steht über die zeitgenössische Kleidung zudem in Verbindung mit der vertikal darüber stehenden Frauenfigur; einziger Männerkopf mit einer Kopfbedeckung; einzige männliche Figur mit deutlicher Gestik, Hände zudem über starke Lichtreflexe betont; die Züge des Porträts sind im Vergleich mit den anderen Gesichtern stark individualisiert |
| Formale Besonderheiten: | Unterzeichnung teils sichtbar |
| Attribute: | Dornenkrone |
| Kleidung: | zeitgenössische Patrizierkleidung: pelzversäumter Mantel, halbhohe Lederstiefel, Hut mit Dornenkrone, rote Kappe |
| Zugeordnete Bildprotagonisten: | alle Trauernden rund um den Leichnam von Jesus Christus, im Besonderen: Joseph von Arimathäa und Maria als unmittelbar anschließende; Jesus Christus; Maria Magdalena im gegenüberliegenden Bildeck; zeitgenössische Frauenfigur mit erhobenen Händen am rechten Bildrand oberhalb: eine Stifterin, oder konkret die Stifterin Maria von Burgund |
Forschungsergebnis: Goes, Hugo van der
| Künstler des Bildnisses: | Goes, Hugo van der |
| Status: | kontrovers diskutiert |
| Andere Identifikationsvorschläge: | ein Stifter; ein unbestimmbarer Mann; Kaiser Maximilian I. |
| Typ | Autor/in | Jahr | Referenz | Seite | Anmerkungen |
|---|---|---|---|---|---|
| Erstzuschreibung | Denny | 1980 | Denny 1980 – A Symbol in Hugo van | bes. 122 |
DetailsDennys Beitrag ist weniger eine Erstzuschreibung als vielmehr eine Erstthematisierung.
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| Skeptisch/verneinend | Ridderbos | 1990 | Ridderbos 1990 – Die Geburt Christi des Hugo | 138 (Anm. 9) |
DetailsDer Autor äußert sich skeptisch, aber nicht gänzlich ablehnend.
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| Skeptisch/verneinend | Ridderbos | 1991 | Ridderbos 1991 – De melancholie van de kunstenaar | 166–168 |
DetailsDer Autor äußert sich skeptisch, aber nicht gänzlich ablehnend.
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| Skeptisch/verneinend | Sander | 1992 | Sander 1992 – Hugo van der Goes | 80f | - |
| Skeptisch/verneinend | Kruse | 1994 | Kruse 1994 – Dokumentation Goes | 235 | - |
| Skeptisch/verneinend | Dhanens | 1998 | Dhanens 1998 – Hugo van der Goes | 226–229, 232, 377 (Anm. 139), 383 (Anm. 278) | - |
| Bejahend | Koster | 2003/2008 | Koster 2003 – New Documentation for the Portinari | 171 | - |
| Bejahend | Koster | 2008 | Koster 2008 – Hugo van der Goes | 88 | - |
| Skeptisch/verneinend | Kapfer | 2008 | Kapfer 2008 – Überlegungen zu den Bildnissen | 53f | - |
| Bejahend | Legner | 2009 | Legner 2009 – Der Artifex | 440–442 | - |
| Bejahend | Salomon | 2009 | Salomon 2009 – Geertgen tot Sint Jans | 54, 67 (Anm. 54) | - |
| Skeptisch/verneinend | Strolz | 2011 | Strolz 2011 – Das Wiener Diptychon von Hugo | 105, 124–126 | - |
| Skeptisch/verneinend | Franke | 2012 | Franke 2012 – Raum und Realismus | 208 (Anm. 673), 274 (Anm. 891) | - |
| Skeptisch/verneinend | Simon | 2015 | Simon 2015 – Studien zu Hugo van | 47 (Anm. 168), 57–65, 70–73, 79f | - |
| Skeptisch/verneinend | Eising | 2023 | Eising 2023 – Hugo van der Goes | 173, 175 (Anm. 10) | - |
Denny verweist 1980 auf eine bis ins 16. Jahrhundert reichende Tradition von Selbstdarstellungen in der Rolle des hl. Nikodemus in der italienischen Skulptur.1 Dabei räumt der Autor ein, dass diese Tradition im Norden als weniger stark ausgeprägt gilt, und erwägt, dass diese Einschätzung nur dadurch zustande gekommen sein könnte, dass die Tradition aufgrund fehlenden Interesses bislang wenig beforscht wurde. Als entsprechendes nordisches Fallbeispiel nennt er den hl. Nikodemus in Rogier van der Weydens Grablegung: „We have […] one identifiable Netherlandish example: Rogier van der Weydens’s Entombment […] includes a Nicodemus which there is every reason to believe is a portrait of the artist.“ Auch im Nikodemus in der Goes’schen Beweinung, so der Autor weiterführend, sei eine Referenz an den Künstler zu sehen: „not necessarily a self-portrait (we have no secure evidence for Hugo’s appearance) but in some sense a deliberate projection of the painter himself into the action of the pious lament.“2 Van der Goes’ Darstellung des Nikodemus wertet Denny als ein künstlerisch ambitioniertes, selbstbewusstes Statement; die Kleidung und Attribute der Figur als Ausdruck der tiefen Religiosität des Malers. So gelte die Dornenkrone auf dem abgelegten Hut als Symbol und drücke eine Imitatio Christi aus. Auch die enganliegende Kopfbedeckung des Nikodemus sei in diesem Sinne zu verstehen, da die blutrote Farbe das Tragen der Dornenkrone impliziere und den Maler willig und bereit erscheinen lasse, sowohl der Passion Christi zu folgen als auch den Schmerz des Martyriums zu ertragen. Die feine Kleidung des Nikodemus wirke damit kontrastierend als Ausdruck des Erfolgs und der höfischen Verbindungen des Künstlers. Über diese beiden Extreme sei ein Konflikt der Selbstbehauptung von Hugo van der Goes zwischen weltlichem und geistigem Leben ausgedrückt: „Implied in the painting is a conflict between the trappings of nobility and the summons to share Christ‘s pain and abasement [...].“3
1990 nimmt Ridderbos Dennys Interpretation auf. Er erörtert, dass es sich bei der Figur in Ableitung der Tradition von Selbstdarstellungen in der Rolle des hl. Nikodemus um eine Selbstreferenz von van der Goes handeln könnte, dass aber nicht zweifelsfrei festzustellen ist, inwiefern es sich dabei um ein Selbstporträt im eigentlichen Sinn handelt. Weiterführend fokussiert Ridderbos auf eine von Dennys Vorschlag abweichende mögliche Funktion des Bildnisses: Ähnlich wie in der Geburt Christi spiegle das Gemälde einen inneren Konflikt wider, den Hugo van der Goes als Künstler durchlebte. Das Bildnis sei „weniger was die soziale Stellung des Künstlers anbelangt [zu deuten], als in Bezug auf die künstlerischen Aufgaben im Lichte der Ideale der Devotio Moderna.“ 4 1991 beschäftigt sich Ridderbos erneut mit Dennys These. Er weist darauf hin, dass sich eine Selbstdarstellung in der Rolle des Nikodemus trotz deutlich ausgeprägter Porträthaftigkeit der Figur nicht verifizieren lässt. Zugleich argumentiert der Autor, dass schon die Kenntnis von der Legende des Nikodemus, der das Volto Santo dargestellt habe, dem Künstler für eine Identifizierung mit dem Heiligen gereicht haben könnte.5 Ridderbos deutet das Bildnis als ein Symbol für eine innere Wandlung des Malers, der danach trachtete, dem Bösen zu widerstehen. Voraussetzung für solch eine Lesart sei es, die Tafel der Beweinung als inhaltliches Pendant zum Sündenfall zu begreifen.6
1992 reagiert Sander ausführlich auf Dennys These. Nach Sander gilt Hugo van der Goes als ein traditioneller Handwerksmeister, weshalb eine Erhöhung seiner Person, die über die elegante Darstellung gegeben wäre, kaum denkbar sei. Damit sei die These zum Selbstbildnis ad absurdum geführt. Zudem betont Sander, dass es in der altniederländischen Malerei kein gesichertes Vergleichsbeispiel einer Selbstthematisierung als Nikodemus gebe. Mit Dennys Interpretationen von Dornenkrone, Hut und roter Kappe als Zeichen persönlicher Nachahmung Jesu geht Sander jedoch d’accord. Er verweist auf die stark ausgeprägten porträthaften Züge der Figur und resümiert, dass es sich um einen Stifter handeln könne. Dieser stehe vermutlich in Zusammenhang mit der zeitgenössischen Frauenfigur auf der rechten Seite, die erst im Laufe des Malprozesses hinzugefügt wurde und der heiligen Handlung nicht zugeordnet werden kann. Die Tracht des Mannes, besonders die abgelegte Kopfbedeckung, die in Form und Dekoration an einen Fürstenhut erinnere, könnte auf ein Mitglied aus dem burgundisch-niederländischen oder französischen Adel verweisen.7
Obwohl die Figur des Nikodemus, wie Kruse (1994) hervorhebt, Künstlern durch ihre legendäre Rolle als Maler oder Bildschnitzer als Identifikationsfigur dienen kann, spricht die Kleidung des Mannes gegen eine Deutung als Künstlerbild. Vielmehr sei es möglich, dass ein Stifter mit der Dornenkrone auf seinem Hut als Zeichen seiner religiösen Überzeugung dargestellt sei.8
1998 lehnt Dhanens Dennys Vorschlag ebenfalls ab.9 Das Porträt verdeutliche über die expressive Geste der zur Brust geführten Hand Empathie gegenüber der Passion. Zusammen mit der Figur der Maria Magdalena gebe es der Komposition Struktur und Halt. Die Kleidung weise den Mann als Angehörigen der Bourgeoisie des 15. Jahrhunderts aus, weshalb Dhanens ein Stifterporträt annimmt.10
2003 führt Koster an, dass die Figur des Nikodemus lange als Selbstporträt gesehen wurde. Obwohl sie dazu nicht konkret Stellung bezieht, thematisiert sie inhaltliche Zusammenhänge mit dem Goes’schen hl. Lukas,11 mit einer Identifikationsfigur, die sich besonders für Selbstdarstellungen eigne. Darüber hinaus führt Koster Vergleiche zu einer Figur hinter der Gruppe der Hirten im Portinari-Altar an, für die sie indirekt ebenfalls die Möglichkeit einer Selbstdarstellung in den Raum stellt. He (the figure of Nicodemus) has the same prominent, sharp nose, dark hair and piercing gaze as the figure behind the shepherds. Also intriguing is his resemblance to what seems to be a faithful copy of a painting by Van der Goes of St Luke. […] [It] was a suitable figure on which to project a self-portrait without the risk of blasphemy.“12
2008 schließt sich Kapfer Sanders und Kruses Theorie zu einem möglichen Stifterbildnis an.13
2009 widmet Legner in seiner Abhandlung zum Artifex Selbstdarstellungen als Identifikationsfiguren ein eigenes Kapitel14 und untersucht darin Rollenporträts in der Gestalt von Heiligen, deren Motivation in der Zurschaustellung von Nachfolgerschaft und Frömmigkeit begründet liegt. Prädestiniert hierfür erscheine u. a. die Figur des hl. Nikodemus, was Legner unter Bezugnahme zum Forschungsstand zu van der Goes‘ möglichem Selbstporträt in der Beweinung erörtert. Der Autor zitiert etwa Kruses Überlegungen zur aristokratischen Kleidung und führt darauf aufbauend weiter aus, dass sich diese mit anderen Darstellungen des Nikodemus vergleichen lasse und auch zum Charakter von van der Goes passe. Die Aufnahme des Goes’schen Porträts in Ladners Aufzählung von Künstlerselbstdarstellungen in Rollen impliziert die Anerkennung des Bildnisses als Selbstporträt durch den Autor, wenngleich dieser sich nicht eindeutig für oder gegen die Identifizierung ausspricht.15
Salomon (2009) weist darauf hin, dass sich sowohl Maler als auch Bildhauer in der Renaissance in der Rolle des Nikodemus in ihre Werke einfügten. Im Anmerkungsapparat weist die Autorin auf die Thematisierungen von entsprechenden Selbstdarstellungen bei Hugo van der Goes und Rogier van der Weyden hin und ergänzt, dass diese Identifizierungen nicht allgemein anerkannt sind.16
Im Zuge der technologischen Studien zum Wiener Diptychon 2011 fokussiert Strolz einerseits auf die differenzierte Darstellungsweise der Figur, die eine besondere Individualisierung bewirke,17 andererseits widmet sie der Unterzeichnung des Gemäldes besonderes Augenmerk. Dabei legt Stolz einen wesentlichen Befund vor und stellt dabei einen direkten Bezug zur Selbstporträtdiskussion her – nämlich, dass Nikodemus als „andere Person“ angelegt war: Mittels infrarotreflektografischer Bildgebung konnte nachgewiesen werden, dass anstelle der Haube ein unbedeckter Kopf mit einer Tonsur (oder Glatze) vorgesehen war. Weiters war die Kleidung ohne Pelzbesatz gedacht und erinnere somit an einen Habit; die Schuhe waren einfach angelegt und auch das Gesicht war deutlich weniger porträthaft gezeichnet. Strolz lässt es offen, ob diese Beobachtungen Dennys These des Selbstporträts unterstützen, gibt aber zu bedenken, dass van der Goes seine letzten Jahre als Laienbruder verbrachte und möglicherweise eine Tonsur trug.18
Franke (2012) spricht sich, mit Hinweis auf die in diversen Kopien nach der Beweinung bis ins 16. Jahrhundert variierende, zeitgenössische Kleidung des Nikodemus (und des Joseph von Arimathäa), dafür aus, dass diese „eine Identifikation des Auftraggebers zulassen“.19 Kosters indirekt formulierte Überlegungen zum Nikodemus (s. o.) interpretiert Franke als Zustimmung zur Selbstporträtthese: „Sie [Koster] sieht ein weiteres Porträt im Nikodemus der Wiener ‚Beweinung‘.“20
Simon (2015), die dem Wiener Diptychon21 in ihrer Dissertation zu Hugo van der Goes besonderen Stellenwert einräumt, bezeichnet die fragliche Figur zunächst als einen nicht bestimmbaren Mann. Selbst die Identifizierung als Nikodemus ist für die Autorin nicht erwiesen, da es mehrere Figuren im Bild gebe, die diese Rolle innehaben könnten.22 In weiterer Folge arbeitet Simon die von Oettinger in die Forschung eingebrachte These, es könne sich beim Auftrag für das Wiener Diptychon um eine Stiftung von Maximilian I. handeln,23 aus. Simon schafft auf Basis ikonografischer Analysen eine Verbindung zwischen dem politischen Geschehen der Zeit (dem burgundischen Erbfolgekrieg, der Teilung des Burgunderreichs in den 1470er Jahren) und dem im Buch von Ezechiel überlieferten Untergang des biblischen Reichs von Tyrus.24 Wie bei Ezechiel der Untergang des Reichs mit dem Tod Christi parallelisiert wird, setzt Simon den toten Heiland von van der Goes mit dem Untergang des Burgunderreichs nach Karl dem Kühnen gleich. Die Figur im rechten Bildeck identifiziert sie mit Maximilian, dem trauernden Erbfolger. Wie die Fürsten des Reiches von Tyrus, die entsprechend der Beschreibung in der alttestamentarischen Quelle ihr Gewand ablegten, um Schrecken und Reue auszudrücken, habe auch Maximilian seinen Hut abgenommen und sich auf den Boden gesetzt. So betrauere er den verlorenen Reichtum und die Einbußen von wirtschaftlicher Macht.25 Resümierend beschreibt Simon die Funktion des Diptychons als Andachtshilfe für den gläubigen Maximilian, der für die Verteidigung seiner Länder gegen den Feind betet.26 Den Fürstenhut mit Dornenkrone an jener Stelle, an der sich traditionellerweise ein Totenkopf befindet, interpretiert sie als symbolisches Attribut Karls des Kühnen.27
Eising (2023) gibt Auskünfte zur Unterzeichnung der Figur, die mit Tonsur und Halbglatze ausgeführt war. Dennys Vorschlag, es könne sich um eine Selbstdarstellung handeln, setzt der Autor entgegen, dass van der Goes als Bruder im Konvent vermutlich einen Bart trug.28
Verweise
Als Beispiele hierfür nennt der Autor die Bildhauer Niccolo dell’Arca, Michelangelo Buonarroti und Baccio Bandinelli.↩︎
Denny 1980, 122.↩︎
Ebd.↩︎
Ridderbos 1990, 138 (Anm. 9).↩︎
Ridderbos 1991, 166.↩︎
Ebd., 166–168.↩︎
Sander 1992, 80f.↩︎
Kruse 1994, 235.↩︎
Dhanens 1998, 377 (Anm. 139), 383 (Anm. 278).↩︎
Dhanens 1998, 226–229, 232.↩︎
Vgl. den Einführungstext zu Hugo van der Goes.↩︎
Koster 2003, 171. Ähnlich in: Koster 2008, 88.↩︎
Kapfer 2008, 53f.↩︎
Legner 2009, 435–451.↩︎
Ebd., 440–442.↩︎
Salomon 2009, 54, 67 (Anm. 54).↩︎
„Die Gestaltung der Gesichtszüge und die Modellierung der Körperformen geschahen in fast zeichnerischer Weise […]. Vergleicht man dazu das Gesicht des Nikodemus, so scheint die Malweise dort weniger ,zeichnerisch‘, mit fein vertriebenen Schattierungen und detailreicher Ausarbeitung der individuellen Gesichtszüge […].“ Strolz 2011, 105.↩︎
Strolz 2011, 124–126.↩︎
Franke 2012, 208 (Anm. 673).↩︎
Ebd., 274 (Anm. 891).↩︎
Die Beweinung Christi ist Teil des Wiener Diptychons.↩︎
Simon 2015, 47 (Anm. 168).↩︎
Oettinger 1938, 55 (Anm. 7).↩︎
Vgl. Ez 26–28. Zudem schließt die Autorin auch Analysen von weiteren theologischen bzw. philosophischen Schriften in ihre Überlegungen ein (Paulus’ Römerbrief; Lorenzo Vallas De libero arbitrio), vgl. Simon 2015, 52–57.↩︎
Simon ebd., 60, Ez 26,16: „Dann steigen alle Fürsten der Küstenländer von ihren Thronen herab, sie legen ihre Gewänder ab und ziehen ihre bunt gewebten Kleider aus. Sie hüllen sich in Schrecken und setzen sich auf den Boden; […]“. Universität Innsbruck, www.uibk.ac.at/theol/leseraum/bibel/ez26.html. Zum Gesamtzusammenhang Bild, Text und Politik vgl. Simon 2015, 57–65.↩︎
Simon 2015, 70–73.↩︎
Ebd., 79f.↩︎
Eising 2023, 173, 175 (Anm. 10).↩︎
Ist er doch ein Edelmann
Die Beweinung Christi, Teil des nur fragmentarisch erhaltenen und in Einzelteile zerlegten Wiener Diptychons, zählt zu den meistdiskutierten Arbeiten von Hugo van der Goes und ist in Bezug auf ihre Ausführung und Datierung höchst umstritten.1 Eine weitgehend inhaltliche Unabhängigkeit der einzelnen Teile erlaubt trotz partieller kompositorischer Übereinstimmungen2 und möglicher ikonografischer Bezüge3 eine isolierte Betrachtung der Tafel.
Wie auch viele italienische Selbstdarstellungen befindet sich das mutmaßliche Selbstporträt im hier diskutierten Bild am rechten Bildrand und ist dem Geschehen vorgelagert. Ein Blick auf das Oeuvre von Hugo van der Goes – insbesondere auf die beiden Gemälde Marientod und Anbetung der Hirten – zeigt jedoch, dass die kompositorische Verankerung des Mannes kein schlagkräftiges Argument für die Deutung des Protagonisten als eine persönlich zuordenbare Figur bzw. als ein Selbstporträt liefert.
Dieser Schluss ergibt sich aus der Beobachtung, dass Figuren am vorderen Gemälderand bzw. in den der Bildhandlung vorgelagerten Raumschichten Hugo van der Goes zur Abgrenzung des Bildraums dienten, aber auch dazu, Handlungsbühnen zu inszenieren, close-up Effekte zu verstärken und die BetrachterIn gezielt an das Geschehen heranzuführen.4 Dennoch weisen zahlreiche Alleinstellungsmerkmale, die Verortung an verschieden gearteten Bildschwellen und die starke Individualisierung des Mannes auf eine hervorgehobene und wesentliche Stellung hin: Zu ersterem zählen die rote Kappe und der abgenommen Hut ebenso wie die bedeutsam inszenierten Gebärden und der Blick in den Raum der Rezipierenden; zu zweiterem die Verankerung am Bildrand, an der Grenze zwischen irdischer und himmlischer Sphäre, zum letzten die detailliert ausgearbeitet Physiognomie.
Seit Beginn der Forschungsdiskussion bei Denny steht die hochwertige zeitgenössische Kleidung des Mannes im Fokus, die in seltsamem Widerspruch mit der Identifizierung der Figur als Selbstinszenierung des im geistigen Leben des Roode-Klosters verhafteten Malers steht.5 Erst mit dem Befund von Strolz kann dem entgegengehalten werden, dass die ursprüngliche Bildanlage eine deutlich bescheidenere Figur vorsah, die aber schlussendlich nicht zur Ausführung kam.6 Die Gründe hierfür müssen ebenso offen bleiben wie die Frage, ob die Figur ursprünglich eventuell als Selbstbildnis gedacht war oder nicht. Ein Abgleich mit den Ergebnissen Sanders, der u. a. die ebenfalls zeitgenössisch gekleidete Frauenfigur am rechten Bildrand als ursprünglich nicht vorgesehene Einfügung aufdeckte, führt zum Schluss, dass es sich beim Rollenporträt um ein Stifterbildnis (bei der Frauenfigur um eine zugehörige Stifterin) handeln dürfte. Der Stifter könnte dabei ähnliche Eigenschaften zum Ausdruck bringen bzw. Botschaften transportiert haben wollen, wie sie in der Forschung bereits unter anderen Vorzeichen für die Figur festgestellt wurde: eine tiefe religiöse Verbundenheit mit Christus und der Passion.
Verweise
Vgl. weiterführend u. a. Eising 2023; Sander 1992, 44; 77–79; Simon 2015, 48–51.↩︎
Hierzu zählt etwa eine nach rechts unten abfallende Kompositionsdiagonale. Vgl. Sander 1992, 49.↩︎
Zu ikonografischen Zusammenhängen vgl. u. a. Simon, die das Diptychon nach geisteswissenschaftlichen Hintergründen und nach Zusammenhängen mit historischen und politischen Begebenheiten der Zeit hinterfragt. Simon 2015, 51–84, bes. 51–73.↩︎
Die kompositorischen Gemeinsamkeiten, die sich bei van der Goes durch Gestalten an der vorderen Bildkante ergeben, sind auch in der Forschung wiederholt thematisiert. Jüngst vergleicht etwa Simon die beiden Figuren in der Beweinung mit jenen im Marientod und sieht sie als Faktoren für die in den jeweiligen anschließenden Szenen vorherrschende „Raumenge“. Neben der Gruppierung von Figuren um ein Hauptmotiv sieht sie zudem die Inszenierung von ausdrucksstarken Gesichtern und Händen als übereinstimmend an. Vgl. ebd., 86f.↩︎
Zur Biografie Hugo van der Goes vgl. den Einführungstext zum Maler.↩︎
Strolz 2011, 126.↩︎
Literatur
Zitiervorschlag:
Krabichler, Elisabeth: Beweinung Christi (Katalogeintrag), in: Metapictor, http://explore-research.uibk.ac.at/arts/metapictor/katalogeintrag/goes-hugo-van-der-beweinung-christi-ab-1479-wien-kunsthistorisches-museum/ (05.12.2025).