Marientod

Goes, Hugo van der

1480 bis 1482

Belgien; Brüssel; Groeningemuseum

Objekt

Bildrechte
Titel in Originalsprache:Dood van de Maria
Titel in Englisch:Death of the Virgin
Datierung: 1480 bis 1482
Ursprungsregion:altniederländischer Raum
Lokalisierung:Belgien; Brüssel; Groeningemuseum
Lokalisierung (Detail):Inventarnummer: 0.204
Medium:Tafelbild
Material:Öl
Bildträger:Holz (Eiche)
Maße: Höhe: 147,8 cm; Breite: 122,4 cm
Ikonografische Bezeichnung:Marienleben (Marientod)
Iconclass:73E74(+5) – the Dormition: Mary on her deathbed; the apostles are gathered around her (John the Evangelist may be shown sleeping or dreaming) (+ donor(s), supplicant(s), whether or not with patron saint(s))
Signatur Wortlaut:ohne
Datierung Wortlaut:ohne
Auftraggeber/Stifter:Roode Klosters; von Jan Crabbe; aus eigenem Antrieb des Malers
Provenienz:vermutlicher Bestimmungsort: Zisterzienserabtei Ter Duinen in Koksijde; 1777 erstmals im Inventar der Abtei als Werk des Künstlers Jan van Scorel genannt; 1627 Verlegung des Klosters nach Brügge, 1796 Auflösung der Abtei; Beschlagnahmung während der französischen Besetzung, aber keine Überstellung nach Paris; 1797 und 1798 erfasst in Inventaren der Sammlung der École Centrale (von den Besatzern im Gebäude der Abtei errichtet); bei der Rückerstattung der Kunstwerke gelangte die Tafel in das Rathaus; seit 1828 im Besitz des Museums in Brügge; 1897 Zuschreibung an Hugo van der Goes durch Firmenich-Richartz
Zugänglichkeit zum Entstehungszeitpunkt:unbekannt

Zur Forschungsgeschichte der Datierung.1 Die Tafel ist beschnitten – die eventuellen ursprünglichen Maße von 154,5 x 126,5 cm lassen sich aus einer Kopie im Museum der Kathedrale Saint-Sauveur in Brügge ableiten.2
Die Angaben zum Auftrag variieren. Das Roode Klosters könnte van der Goes beauftragt haben, ebenso könnte er aus eigenem Antrieb gemalt haben.3 Auf der Website des Groeningemuseums4 ist Jan Crabbe, Abt der Zisterzienserabtei Ter Duinen in Koksijde (Westflandern) als Stifter vermerkt.5

Verweise

  1. Vgl. u. a. Kapfer 2008, 50f.↩︎

  2. Quermann 1998, 22.↩︎

  3. Dhanens 1998, 336.↩︎

  4. O. A. o. J. (19.7.2024).↩︎

  5. Im Detail zu Provenienz und Zuschreibung vgl. Quermann 1998, 19–21. Zu abweichenden Information vgl. Kruse 1994, 242.↩︎

Bildnis 1

Bildrechte
Lokalisierung im Objekt:Figur hinter dem rechten Kopfende des Bettes
Ausführung Körper:Kopfbild
Ausführung Kopf:Dreiviertelporträt
Ikonografischer Kontext:einer der Apostel im Marientod
Blick/Mimik:schielender Blick; Blick nach rechts (linkes und rechtes Auge driften auseinander); Sprachgestus
Gesten:beide Hände umfassen die Ecke des Bettes
Körperhaltung:Körper nicht sichtbar
Interaktion/Raum-, Bildraumbeziehung/ Alleinstellungsmerkmal:zwar ist die Figur einer der zwölf Apostel, dennoch steht sie in keinerlei Beziehung zu den anderen; an einer Schwelle zwischen Vordergrundbühne mit Totenbett sowie Aposteln und darüber (knapp dahinter) schwebender Lichtgloriole in einem stark verdichteten Raumgefüge; die Figur ist beiden Bereichen anteilig: die Hände umschließen das Bett, der Kopf überschneidet die Gloriole; von den Händen sind nur die Finger im vorderen Bereich sichtbar; der schielende Blick der Figur führt ebenso in beide Ebenen; gegenläufig zu den das Bett umschließenden Händen (Bewegung Richtung innen) driftet der Blick auseinander (Bewegung nach vorne und hinten); in einem nahezu dreieckigen Raumkompartiment, gebildet aus Bettkante, Vorhang und Gloriole, eingebettet

Forschungsergebnis: Goes, Hugo van der

Künstler des Bildnisses:Goes, Hugo van der
Status:kontrovers diskutiert
Andere Identifikationsvorschläge:Apostel; heiliger Narr; vermutlich ein Bruder aus dem Kloster
Typ Autor/in Jahr Referenz Seite Anmerkungen
Erstzuschreibung Destrée 1914 Destrée 1914 – Hugo van der Goes 19f
Details
Destrées Ausführungen lassen keine eindeutige Schlussfolgerung zu, welchen der Apostel der Autor als mögliche Selbstdarstellung favorisiert. Folglich ist sein Hinweis im Rahmen der Erhebung des Forschungsstands bei beiden Bildnissen, die als Selbstdarstellungen im Marientod thematisiert werden, angegeben. Er ist den Forschenden vorangestellt, die die jeweiligen Bildnisse konkret zum ersten Mal als Selbstbildnisse besprechen.
Skeptisch/verneinend Quermann 2006 Quermann 2006 – Der Marientod von Hugo van 135f -
Erstzuschreibung Franke 2012 Franke 2012 – Raum und Realismus 274–276 -
Bejahend Simon 2015 Simon 2015 – Studien zu Hugo van 24 -
Bejahend Ainsworth 2017 Ainsworth 2017 – Hugo van der Goes 29 -
Bejahend Borchert 2023 Borchert 2023 – Hugo van der Goes 226, 232 (Anm. 8) -

„[I]l ne nous étonnerait nullement que Hugo n’eût transmis sa physionomie dans l’une des têtes puissantes de la Mort de Marie ou dans quelque autre production de sa maturité“. Nach dieser wenig differenzierten Feststellung, dass sich unter den Köpfen im Marientod eine Selbstdarstellung befinden könnte, thematisiert Destrée (1914) weitere mögliche Selbstdarstellungen im Monforte-Altar und in der Anbetung der Hirten.1

Quermann (2006) fokussiert auf die auffällige Physiognomie des Mannes, die ihn als Empfänger einer Vision auszeichne. Die so deutlich gemachte Sonderstellung des Apostels impliziere die Möglichkeit, Hugo van der Goes habe sich in Gestalt des „heiligen Narren“ ein „alter ego“ geschaffen. Dennoch sei eine direkte Verbindung zur Persönlichkeit des Malers gerade im Zusammenhang mit seiner Anamnese schwierig.2 Die Autorin lehnt es ab, Bezugnahmen im Sinne einer „Psycho-Ikonographie“ anzustellen, vielmehr geht sie von einer detaillierten Planung der Figur (und der Zusammenstellung aller Bildfiguren) aus.3

Franke (2012) hebt hervor, dass der Apostel an einer Bildgrenze zwischen verschiedenen Realitätsebenen positioniert ist, was insbesondere über den verlaufenden Rand der Gloriole (der Vision) ausgedrückt ist, den der Kopf des Jüngers überschneidet. So „sehe“ der Apostel als einziger der versammelten Männer sowohl die Szene mit Christus als auch jene um Maria. Damit nehme er, wie die BetrachterIn, die Anleitung zur compassio wahr. Inhaltlich stehe er somit der Figur des rennenden Hirten in Berlin nahe, die ebenfalls ohne direkte Interaktion mit den Rezipierenden ein Erleben von Glaube ausdrücke. Entgegen der ikonografischen Tradition und abweichend von den übrigen Figuren, besitze das Bildnis keine Kommentarfunktion. Den ins Leere gerichteten Blick interpretiert Franke als Hinweis auf den Gesundheitszustand von van der Goes, der als geistig verwirrt oder auch als blind überliefert ist. Dieser Blick ähnle dem eines Melancholikers und entspreche damit einer Künstlercharakteristik, wie sie seit Albrecht Dürer geläufig ist. Weitere Indizien, die nach Franke für die Interpretation der Figur als Selbstporträt sprechen, sind physiognomische Ähnlichkeiten mit dem Hl. Lukas,4 der Figur mit blauer Kappe im Monforte-Altar sowie mit dem bereits erwähnten rennenden Hirten in der Berliner Anbetung. Zudem erscheint Franke der Redegestus des Apostels – insbesondere in Hinblick auf die Profilfigur im Monforte-Altar und den rennenden Hirten in der Berliner Anbetung – von zentraler Bedeutung.5

2015 zitiert Simon ohne weitere Kommentare Quermanns Überlegungen: „Im hintersten Apostel vermutet Quermann […] ein Künstlerselbstbildnis.“6

2017 stellt Ainsworth unter Bezugnahme auf Dhanens wertneutral fest, dass der Apostel an der oberen Bettkante der Jungfrau als Selbstporträt vorgeschlagen wurde.7

2023 verweist Borchert auf die Ähnlichkeit des bartlosen Alten mit Hirtenfiguren aus dem Portinari-Altar und der Geburt Christi und vermutet die Verwendung einer Vorlage. Im Anmerkungsapparat listet Borchert kommentarlos Forschende auf, die von einer Selbstdarstellung der Figur ausgehen.8

Weiters wurde das Bildnis als ein Apostel oder als ein heiliger Narr9 aufgefasst. Dhanens interpretiert die Jünger darüber hinaus summarisch als nach dem Leben gemalte, individualisierte Männer, die vermutlich Brüder aus dem Kloster darstellen.10

Verweise

  1. Destrée 1914, 19f.↩︎

  2. Vgl. den Einleitungstext zu Hugo van der Goes.↩︎

  3. Quermann 2006, 135f.↩︎

  4. Vgl. den Einleitungstext zu Hugo van der Goes.↩︎

  5. Franke 2012, 274–276.↩︎

  6. Simon 2015, 24.↩︎

  7. Ainsworth 2017, 29. Ainsworth bezieht sich hier auf Dhanens, die allerdings nicht diesen Apostel, sondern den rot gekleideten in der vorderen rechten Bildecke als Selbstporträt interpretiert. Vgl. Ainsworth 2017, 29 (Anm. 6). Ainsworth zitiert Dhanens 1998, 358, 360. Vgl. weiterführend den Forschungsstand zum zweiten vorgeschlagenen Selbstbildnis im Marientod.↩︎

  8. Borchert 2023, 226, 232 (Anm. 8). Die von Borchert gelisteten Autoren, die der Selbstdarstellung zustimmen, sind im hier vorliegenden Forschungsstand zur möglichen Selbstdarstellung nicht gelistet, da keine eindeutigen Aussagen hinsichtlich eines Selbstporträts getätigt sind. Dabei handelt es sich um: Claussen 2000, 53; Claussen 2001, 500f; Ridderbos 2007, 24.↩︎

  9. Kruse 1994, 242.↩︎

  10. Dhanens 1998, 356; ähnlich bei Ainsworth 2017, 28.↩︎

Bildnis 2

Bildrechte
Lokalisierung im Objekt:Figur im rechten Vordergrund
Ausführung Körper:Ganzfigur sitzend
Ausführung Kopf:Frontalansicht
Ikonografischer Kontext:einer der Apostel im Marientod
Blick/Mimik:direkter Blick aus dem Bild
Gesten:die rechte Hand der Figur hält ein Buch; die linke Hand ist auf dem Bettgestell aufgestützt
Körperhaltung:Kopf leicht nach links geneigt; Körperachse im Sitzen verdreht: linke Schulter der Figur nach hinten zurückgedreht, folglich Oberkörper leicht nach rechts ausgerichtet – Hüfte gegengleich, damit sind die Beine nach links ausgerichtet; linkes Bein und rechte Hand der Figur entsprechend der Körperdrehung jeweils weiter als der Gegenpart nach vorne reichend; linker Arm der Figur und beide Beine angewinkelt; Oberkörper trotz der Position stark aufgerichtet
Interaktion/Raum-, Bildraumbeziehung/ Alleinstellungsmerkmal:im vordersten Bildbereich an einer Schwelle zum BetrachterInnenraum (Ausrichtung nach vorne, auch über den linken Fuß der Figur und den direkten Blick); Füße in der vorderen Bildmitte bilden mit dem rechten Fuß des Apostels daneben eine Situation von Annäherung und gleichzeitiger Abgrenzung (Freiraum zwischen den Füßen); mit der blau gekleideten Figur am linken Bildrand über den direkten, frontalen Blick aus dem Bild verbunden; Farbe der Kleidung harmonisiert mit einem Apostel links, ebenso mit dem Umhang von Christus in der Gloriole; ähnelt Christus in Kopfneigung, ‑form und ‑details; Apostel öffnet gemeinsam mit der zweiten Figur im Vordergrund einen bildzentralen Blickkanal auf die Todesszene; rechter gestreckter Arm der Figur unnatürlich verkürzt
Attribute:Buch
Kleidung:auffällig monochrom
Zugeordnete Bildprotagonisten:alle Apostel, insbesondere die Figur im linken Vordergrund

Forschungsergebnis: Goes, Hugo van der

Künstler des Bildnisses:Goes, Hugo van der
Status:kontrovers diskutiert
Andere Identifikationsvorschläge:ein Apostel; vermutlich ein Bruder aus dem Kloster
Typ Autor/in Jahr Referenz Seite Anmerkungen
Erstzuschreibung Destrée 1914 Destrée 1914 – Hugo van der Goes 19f
Details
Destrées Ausführungen lassen keine eindeutige Schlussfolgerung zu, welchen der Apostel der Autor als mögliche Selbstdarstellung favorisiert. Folglich ist sein Hinweis im Rahmen der Erhebung des Forschungsstands bei beiden Bildnissen, die als Selbstdarstellungen im Marientod thematisiert werden, angegeben. Er ist den Forschenden vorangestellt, die die jeweiligen Bildnisse konkret zum ersten Mal als Selbstbildnisse besprechen.
Erstzuschreibung Dhanens 1998 Dhanens 1998 – Hugo van der Goes 12f, 357–360 -
Skeptisch/verneinend Claussen 2000 Claussen 2000 – Von der Melancholie des Künstlers 53, 65 (Anm. 22) -
Skeptisch/verneinend Kapfer 2008 Kapfer 2008 – Überlegungen zu den Bildnissen 51–53 -
Skeptisch/verneinend Ainsworth 2023 Ainsworth 2023 – Hugo van der Goes 56 -

„[I]l ne nous étonnerait nullement que Hugo n’eût transmis sa physionomie dans l’une des têtes puissantes de la Mort de Marie ou dans quelque autre production de sa maturité“. Nach dieser wenig differenzierten Feststellung, dass sich unter den Köpfen im Marientod eine Selbstdarstellung befinden könnte, thematisiert Destrée (1914) weitere mögliche Selbstdarstellungen im Monforte-Altar und in der Anbetung der Hirten.1

Dhanens (1998) vermutet ein Selbstbildnis von van der Goes im rot gekleideten Apostel im rechten Vordergrund, da sich das Bildnis über seinen melancholischen, angespannten Ausdruck von den anderen unterscheide. Gezeigt sei ein geschwächter, von Prüfungen und klösterlicher Askese gezeichneter Künstler.2 Die Autorin betont den kommunikativen Charakter der Figur. Dabei fokussiert sie u. a. auf ihren eindringlichen, auf die BetrachterIn gerichteten Blick und erkennt eine gewisse Divergenz der Pupillen, die sie als Charakteristikum für nach dem Spiegel gearbeitete Porträts beschreibt. Darüber hinaus konzentriert sich Dhanens auf die rechte Hand des Apostels, der das geschlossene Buch so halte, als wolle er ein Ende ankündigen. Über die langen, flexiblen Finger seien Sensibilität, Intelligenz und Kunstfertigkeit ausgedrückt.3

Claussen (2000) hingegen hält es sowohl für unwahrscheinlich, dass es sich bei dem Apostel um ein Selbstbildnis handelt, als auch, dass die übrigen Jünger Porträts der Mitbrüder von Hugo van der Goes darstellen könnten.4 Den als Selbstbildnis diskutierten Apostel vorne interpretiert er vielmehr als einen Visionär, der sich in meditativem Zustand befinde und das „wahre Licht“ vor seinem inneren Auge sehe.5

Kapfer (2008) vergleicht den Apostel mit frühen Beispielen italienischer Selbstporträts im Rahmen von Marientod-Ikonografien6 und kommt zu dem Schluss, dass es sich bei der Figur nicht um ein Selbstbildnis handelt. Obwohl durch die rote Kopfbedeckung ein möglicher Hinweis auf eine zeitgenössische Figur gegeben sei, lasse die prominente Positionierung keine Identifizierung als Selbstdarstellung zu. Zur Untermauerung ihrer These bezieht sich Kapfer auf Müller Hofstedes Ausführungen zum Humilitas-Gestus in niederländischen Selbstporträts.7

2023 wertet Ainsworth die Selbstporträtthese von Dhanens als nicht verifizierbares Wunschdenken.8

Verweise

  1. Destrée 1914, 19f.↩︎

  2. Dhanens 1998, 357–359. Zudem publiziert Dhanens die Figur tituliert als „Autoportrait présumé“, vgl. Dhanens 1998, 12f.↩︎

  3. Dhanens 1998, 360. Dhanens bezieht sich ohne weitere Angaben auf Marcus van Vaernewijck, der im vorliegenden Zusammenhang kunstfertige Hände („kunstige handen“) thematisiert habe. Quermann wiederum verweist auf Dhanens Ausführungen, ohne diese zu kommentieren, vgl. Quermann 2006, 75 (Anm. 220).↩︎

  4. Claussen 2000, 65 (Anm. 22).↩︎

  5. Ebd., 53.↩︎

  6. Zu Vergleichszwecken beschäftigt sich die Autorin u. a. mit dem Marientod von Andrea Orcagna (1359) und mit dem Altarbild von Taddeo di Bartolo im Dom von Montepulciano, vgl. Kapfer 2008, 51–53.↩︎

  7. Kapfer 2008, 51–53, bes. 53. Zu Darstellungskonventionen niederländischer Selbstbildnisse nach Müller Hofstede vgl. Müller Hofstede 1998.↩︎

  8. Ainsworth 2023, 56.↩︎

Schwellenfiguren

Das Gemälde Marientod zählt zum Spätwerk von Hugo van der Goes, das unterschiedlichste Deutungen erfuhr und teilweise mit der Biografie des Malers – insbesondere mit seinem Leben als Klosterbruder – in Zusammenhang gebracht wurde.1 Vorrangig sei die psychologisierende Erfassung der Jünger ein deutliches Zeichen für diese biografische Verbindung. Ein Beispiel bietet Wittkower, der die Tafel als letztes Gemälde von van der Goes einschätzt, die dieser nach der Genesung von einem psychischen Zusammenbruch gemalt habe. Entsprechend repräsentiere es den im Kloster gelebten, von Thomas von Kempen propagierten „Geist der Entsagung“.2 Der eingeschlagene demutsvolle, reumütige Weg zum Heil spiegle sich in den Mienen und Gesten der Apostel,3 die sowohl die Resignation als auch die Erschöpfung des Künstlers widerspiegeln.4 Auch Koslow, die das Gemälde als direkte Reaktion auf das klösterliche Armutsideal versteht, thematisiert den Einfluss der psychischen Erkrankung van der Goes‘ auf die Marientafel. Über die Apostel sei zudem der Stellenwert von Meditation verbildlicht.5 Sander interpretiert die Jünger hingegen als appellierende Figuren, die einen Zwiespalt des Malers aufzeigen: Über sie beschwöre van der Goes eine religiöse Welt und drücke zugleich seine theologische Unsicherheit aus.6 Suckale wiederum bezeichnet die Apostel als Symbole für die Unfassbarkeit Gottes. Diese zeige sich in den Mienen der Männer, deren Ausdruck zwischen beseelter Gläubigkeit und blödem Starren oszilliere und die – einzeln betrachtet –allesamt eine depressive Hilfslosigkeit ausstrahlen. Suckale widerspricht der These, der Geisteszustand von Hugo van der Goes müsse in die Interpretation des Gemäldes einbezogen werden.7 Dieser Meinung ist auch De Vos, der die neuartige Darstellung der Jünger in „visionäre[r] Verzweiflung“ als Motiv der Identifikation bzw. als Anleitung zur Andacht für die Rezipierenden – als eine „einzigartige Verdichtung des Spirituellen“ – beschreibt.8 Claussen fokussiert wiederum auf Hugo van der Goes als melancholische Künstlerpersönlichkeit und auf das Gemälde als eine Thematisierung visionären Sehens.9 Wedekind weist in seiner Analyse von Émile Wauters‘ Gemälde Der Wahnsinn des Hugo van der Goes10 auf das Porträt des Malers hin, das an einen Apostel links im Marientod erinnere. Das künstlerische Vorgehen Wauters entspreche dem von van der Goes – beide Maler intendierten, Wahnsinn anschaulich und plausibel zu verbildlichen.11

Die Ausstrahlung der trotz der dichten Anordnung isoliert und entrückt/bedrückend wirkenden Apostel ist prinzipiell ein wesentliches und vieldiskutiertes Moment des Gemäldes. „Die Menschenschilderung hat einen Höhepunkt der Expression erreicht“, so etwa Kruse und weiter: „In der Intensität der Gestaltung sprengt es die Grenzen der Malerei seiner Zeit.“12 Unter dem Titel „Zerbrochene Gemeinsamkeit“ verbindet Quermann, die sich in ihrer Dissertation zum Marientod insbesondere mit Distanzen als Motive der Raumkonzeption beschäftigt,13 die Situation der Apostel etwa mit der der Gläubigen. Diese müssen sich mit Gefühlen wie Trauer und Einsamkeit auseinandersetzen. Sie „werden nicht nur […] auf Abstand gehalten, sondern sind angesichts der überraschend stillgestellten, nah herangerückten Apostel gänzlich auf sich und ihre Imagination zurückgeworfen. […] Angesichts des Todes sind die Apostel damit genauso auf sich zurückgeworfen wie die Betrachter angesichts des Bildes.“14 Trotz der Nähe von Bild und bildexternem Raum und der Ansprache der Rezipierenden über die teils direkten Blicke der Apostel bleiben die Jünger in einer unantastbaren Ebene.15 Dennoch wirke das Ritual vordergründig, was es der BetrachterIn einerseits ermögliche, sich mit den Dargestellten, und andererseits, mit dem Glauben an die Heilswirkung des Todes zu identifizieren.16 Franke fokussiert auf die Widersprüchlichkeiten sozialer und räumlicher Aussagen: Die dicht gedrängten Apostel wirken aufgrund ihrer in sich gekehrten Blicke im horror vacuii der Figuren einzeln isoliert. Verstärkt werde dies durch die dominante, eine Vision symbolisierende Gloriole im oberen Bereich und die allgemeine Unlogik des Innenraums mit seinen fehlenden perspektivischen Bezugnahmen. Im nahsichtig konzipierten Gemälde existiert keine Trennung zwischen Vorder- und Mittelgrund, folglich, so Franke, ist die Trennung von Bild und bildexternem Raum aufgehoben.17 Die Apostel thematisieren ihre innere Gottesschau und leiten gleichermaßen mit Gesten und Blicken zur Meditation an. Auch die formale Gestaltung der Tafel, die den Raum negiert und flächig erscheinen lässt, vermittelt Transzendenz.18

Dennoch nehmen die als Selbstdarstellungen diskutierten Figuren – der Apostel am rechten Kopfteil der Bettstatt Mariens und der Apostel rechts vorne – bedeutsame Positionen im Raum ein.19 Der vordere Jünger ist aufgrund seiner Monumentalität, der Position und des Blicks u. a. mit dem rechten Propheten in der Anbetung der Hirten vergleichbar. Der hintere erinnert über seine Physiognomie und den Redegestus u. a. an den hereinstürmenden Hirten im selben Gemälde.20 Die Auffälligkeiten der beiden möglichen Selbstdarstellungen boten Anlass für allerlei Detailbetrachtungen und Charakterisierungen. Die hintere Figur wird etwa von Kruse und Belting als „heilige[r] Narr“, 21 von Quermann als „begnadete[r] Irre“22 und von Claussen als „Greis in Aussenseiterposition“23 tituliert – als eine Gestalt, die an die „Landstreicher und Narren“ von Hieronymus Bosch erinnere und Zeuge einer Vision werde.24 Besonders wesentlich bei der Deutung dieses Apostels sind die schielenden Augen, die als Hinweis für Blindheit aber auch zeichenhaft für die Kraft der Imagination gesehen werden.25
Auch für die Interpretationen des Jüngers im vorderen Bereich ist der Blick – in diesem Fall ein verinnerlicht nach vorne gerichteter – maßgeblich für die Einschätzung der Figur als visionär Sehender.26 Über die Verbindung dieses Protagonisten mit der in einen dunkelgrünen Umhang gekleideten Figur unmittelbar dahinter wird ein deutlicher Bezug zur sterbenden Gottesmutter hergestellt,27 während der dunkelblau gekleidete Apostel am linken Bildrand, der seinen Blick ebenfalls nach vorne richtet, die BetrachterInnenansprache verstärkt. Die von den beiden vorderen Jüngern bereitgestellten Attribute (Buch, Rosenkranz) stehen den Gläubigen in der Ausübung ihrer frommen Handlungen zur Verfügung.28 Der vordere Apostel ist dabei weit mehr als ein bloßes Zeichen der Überschreitung der Bildschwelle.29
Wie ausgeführt, impliziert das Zusammenspiel der Gesten und Mienen aller Apostel – insbesondere im unteren Drittel – weitreichende Interpretationsmöglichkeiten.30

Der schielende Alte an der Bettkante

Trotz der bereits seit Destrée 1914 vorliegenden These, Hugo van der Goes habe sich im Marientod selbst porträtiert, und der mehrfachen Thematisierung der Sonderstellung des schielenden Apostels führte erst Franke 2012 Argumente in die Forschung ein, die Destrées Vorschlag für die vorliegende Figur vertiefen. Frankes Ausführungen, untermauert durch Vergleiche der Figur mit anderen im Gesamtwerk von van der Goes und daraus abgeleiteten Indizien, können allerdings nur als Interpretationen verstanden werden und haben keinerlei verifizierenden Charakter.

Wie oben ausgeführt zeichnet sich das Gemälde Marientod insbesondere durch seine den Raum negierende Konzeption aus, in der der Apostel an der hinteren Bettkante eine deutliche Scharnierstellung einnimmt. In der horizontalen Dreiteilung des Bildes – bestehend aus den monumentalen, dem Totenbett an der unteren Bildkante vorgelagerten Figuren, dem Totenbett selbst mit den sich darum drängenden Aposteln sowie der Gloriole mit der Erscheinung Christi im oberen Bereich – befindet sich die Figur an einer bedeutungsvollen Schnittstelle: Sie ist zwischen den unteren Teilen, die den irdischen Bereich repräsentieren, und der himmlischen Erscheinung eingebettet und überwindet so die verschiedenen ontologischen Ebenen. Das zeigt sich zum einen durch die Hände des Apostels, die das Bett von vorne und hinten sowie von oben und unten umklammern. Zum anderen wird dies durch den Schein der Gloriole, den der Kopf der Figur überschneidet, deutlich. Auch der Redegestus, der sowohl eine Ausrichtung auf die Gläubigen als auch ein privates Gebet der Figur andeuten kann, und nicht zuletzt die Augen, die doppeldeutig in zwei Richtungen blicken, sind entsprechend interpretierbar. Ein Innen und ein Außen ist angezeigt, das sowohl auf den Bild-, auf den BetrachterInnenraum als auch auf die Figur selbst bezogen werden kann.

Der Blick als Zeichen eines Narren und/oder Visionärs wurde in der Forschung zum Marientod ausgiebig diskutiert (s. o.). Als allgemeines Kennzeichen für Selbstporträts sollte die schielende Augenstellung später im Zusammenhang mit Albrecht Dürer festgestellt werden.31 Sie inszeniere den Porträtierten als Subjekt und Objekt, als Darsteller und Dargestellten,32 lautet eine der von dem Blick abgeleiteten Thesen. Weiters beseele sie das Porträt, was mit dem Denken von Cusanus von vivo imago verbunden werden könne,33 und weise den Dargestellten als geistig begabt,34 inspiriert und von höherer Erkenntnis aus.35 Der Zusammenhang zwischen Hugo van der Goes und Albrecht Dürer hinsichtlich des Ausdrucks von Melancholie, die allgemein als charakterisierendes Merkmal von Künstlerpersönlichkeiten thematisiert wird, wurde bereits von Claussen hergestellt36 – eine mögliche Verbindung der beiden Maler hinsichtlich ihrer Selbstdarstellungen wurde bislang jedoch noch nicht diskutiert. Ließe sich über einen Abgleich der beiden Künstler eine präfigurierende Aussage von van der Goes für Dürer feststellen, so könnte diese Klarheit über den Stellenwert des schielenden Alten im Oeuvre des Niederländers schaffen und dürfte zudem auch Theorien zu möglichen Selbstdarstellungen in anderen Gemälden von van der Goes untermauern. Besonders im Fokus steht hierbei der rennende Hirte in der Anbetung der Hirten, der von großer physiognomischer Ähnlichkeit ist.

Ein weiteres Motiv, das die Bildebenen scheinbar überwindet, ist der in der rechten oberen Bildecke gemalte Vorhang. Trotz des schwer fassbaren Raums vermittelt dieser den Eindruck, sich aus einem hinteren Dunkel in unmittelbarer Nähe der Gloriole herauszuentwickeln und diesen Bereich durch die Bewegung nach unten mit dem der Apostel zu verbinden. Äußerst rechts im Bild ist ein Durchblick in einen weiteren Innenraum gegeben, der einem Hinweis auf die Verankerung der Szene in irdischen Ebenen gleichkommt.37 Im Marientod begrenzt der Vorhang gemeinsam mit der horizontalen Kante des Bettes38 und der Gloriole ein Raumkompartiment in der Form eines (annähernd) rechtwinkligen Dreiecks. In dieses ist das mögliche Selbstporträt (überschnitten von einem vorgelagerten Apostel) wie ein Bild-im-Bild eingebettet. Der Vorhang markiert eine Bildschwelle – die dem Motiv inhärente Bedeutung von Ver- bzw. Entschleiern (in theologischen und metabildlichen Zusammenhängen) ist nicht außer Acht zu lassen.39 Ob bzw. inwiefern sich diese auf die Figur an der Bettkante umlegen lässt, bleibt allerdings rein spekulativ. Jedenfalls war dem Maler die Wirksamkeit von Vorhängen bewusst, inszenierte er das Sujet doch in sehr auffälliger Weise in der Berliner Anbetung der Hirten.

Der Apostel im vorderen rechten Bildbereich, der BetrachterIn zugewandt

1998 lenkt Dhanens Destrées undefinierte Selbstporträttheorie in Richtung des rot gekleideten Mannes im rechten Vordergrund und betont dabei insbesondere dessen Blick – sowohl in Bezug auf die BetrachterInnenansprache der Figur als auch als Hinweis darauf, dass das Bildnis nach einem Spiegel gemalt worden sein könnte.40 Unbeachtet blieb bislang das Detail des Astes, der sich an jener Stelle am Bettkasten abzeichnet, an der sich die linke Hand des Apostels befindet und der ebenfalls als nach vorne gerichteter Blick ausgelegt werden könnte. Ebenso erfuhr das weltliche Detail des geöffneten obersten Knopfs des Unterkleids des Jüngers noch keine Interpretation. Der Schwellencharakter und die Orientierung in den BetrachterInnenraum der Figur stehen jedenfalls außer Frage, allerdings ist dies eine Charakterisierung, die für viele der dargestellten Apostel zutrifft: So schaut etwa auch der dunkel gekleidete Jünger am linken Bildrand, der seine Hand auf den vorderen legt, ähnlich eindringlich zur RezipientIn.
Wie die Analysen der bisherigen möglichen Selbstporträts von van der Goes gezeigt haben, ist ein direkter Blick bei diesem Maler nicht zwangsläufig ein Kriterium für eine Selbstdarstellung. Vielmehr stellen auffällige Übereinstimmungen der rechten Vordergrundfigur mit der Christusfigur in der Gloriole (besonders Details des Kopfes, die Kopfneigung und -form) die Selbstporträttheorie deutlich in Frage. Eine derartige Parallelisierung mit dem Heiland sowie die damit einhergehende prominente Aufwertung des mutmaßlichen Selbstbildnisses wäre ein kaum vorstellbarer Bruch des decorums. Dennoch stellt der rot gekleidete Apostel über seine prominente Position eine Ausnahme im Bildgefüge dar. Wie kaum ein anderer ist er fast zur Gänze sichtbar.41 Während Christus seine Stigmata als Zeichen seiner Passion zeigt, stützt sich die Vordergrundfigur auf das Buch und damit auf die theoretischen Grundlagen des christlichen Glaubens (fadenartige Elemente unter dem Buch vermitteln über ein verdicktes Ende im vorderen Bereich den Eindruck von dünnen, verbogenen Nägeln – vielleicht ein Hinweis auf die Arma Christi). Die Funktion einer spirituellen Anleitung der BetrachterIn kann der Figur keinesfalls abgesprochen werden.

Resümee: Nicht einer unter ihnen

Trotz aller Auffälligkeiten und möglicher autoreferenzieller Bezüge der als Selbstdarstellungen thematisierten Bildnisse im Marientod kann keines der beiden zweifelsfrei als Selbstporträt festgeschrieben werden. Den Vorzug erhält allerdings eindeutig die Figur an der Bettkante, die, wie auch Franke argumentiert, überdeutliche Alleinstellungsmerkmale aufweist. Darüber hinaus steht der schielende Alte am Bett in Bezug zum rennenden Hirten in der Hirtenanbetung, der ebenfalls als Künstlerbild thematisiert ist. Allerdings ist zwischen diesen Figuren ein deutlicher Altersunterschied festzustellen, der es unmöglich macht, beide als Selbstporträts anzuerkennen – insbesondere, nachdem die Gemälde zur selben Zeit entstanden sind. Diese Diskrepanz könnte man nur damit erklären, dass der Maler vielleicht seine Krankheit und den damit einhergehenden körperlichen Verfall dokumentieren hätte wollen – eine Überlegung, die im Reich des Spekulativen angesiedelt bleiben muss.

Verweise

  1. Zum Spätwerk, insbesondere zu Zusammenhängen zwischen Künstlerbiografie und Oeuvre, vgl. Ausführungen im Einleitungstext zu Hugo van der Goes und im Katalogbeitrag zur Anbetung der Hirten. Umfangreiche Forschungsstände zum Marientod finden sich u. a. bei Quermann 2006, 33–49; Simon 2015, 4–28. Zum Marientod jüngst vgl. Borchert 2023.↩︎

  2. Wittkower/Wittkower 1989, 130f.↩︎

  3. Ebd., 126–131, bes. 130f.↩︎

  4. Wittkower 1969, 108–113.↩︎

  5. Koslow 1979, bes. 33–35.↩︎

  6. Denselben Interpretationsansatz vertritt der Autor in Bezug auf die beiden Propheten (darunter ein Selbstbildnis) in der Anbetung der Hirten, vgl. Sander 1992, 262; ähnlich bei Belting 1994, 94, 119f.↩︎

  7. Suckale 2002, 287.↩︎

  8. De Vos 2002, 136, 138.↩︎

  9. Claussen 2000. Zur Wirkkraft der Vision bzw. zum „Sehen“ der himmlischen Erscheinung im Marientod vgl. weiterführend Ridderbos 2007, 24, 30 (Anm. 76).↩︎

  10. Émile Wauters, Der Wahnsinn des Hugo van der Goes, 1872, Brüssel, Königliche Museen der Schönen Künste Belgiens.↩︎

  11. Wedekind 2023, 81–86, bes. 85.↩︎

  12. Kruse 1994, 242.↩︎

  13. Quermann 2006. Das Gemälde zeichnet sich durch fehlende Raum- bzw. reduzierte Perspektivewirkung aus, Quermann deutet dies als zeichenhaft für den über Vernunft nicht fassbaren Gott. Quermann 1998, 125f; vgl. u. a. Claussen 2000, 53–55, mit weiterführender Literatur.↩︎

  14. Quermann 2006, 130–132, bes. 131f.↩︎

  15. Ebd., 83.↩︎

  16. Ebd., 134.↩︎

  17. Franke 2012, 250–258, bes. 250, 256. Zur Entwicklung der Komposition vgl. u. a. Ridderbos 2007. Das Gemälde ist an den seitlichen Rändern leicht beschnitten, was die dichte und unmittelbare Wirkung wohl verstärkt. Über eine Kopie eines anonymen südniederländischen Meisters (?) aus der Mitte des 16. Jahrhunderts, die sich in Brügge in der Sint-Salvator-Kathedrale befindet, ist der ursprüngliche Bestand nachvollziehbar. Zu einer Abbildung dieses Gemäldes vgl. De Vos 2002, 210 (Abb. 33).↩︎

  18. Franke 2021.↩︎

  19. Winkler stellt in den Raum, dass die zweite Apostelfigur links hinten (gekleidet in helles Blau) im Marientod nach derselben Naturstudie geschaffen ist wie der hereinstürmende Hirte in der Anbetung der Hirten. Vgl. Winkler 1964, 63. Obwohl sich daraus ableiten ließe, dass es sich auch bei diesem Apostel um eine Selbstthematisierung handeln könnte, wird dem Gedanken keine weitere Beachtung geschenkt: Denn weder ist die von Winkler festgestellte Ähnlichkeit überzeugend ausgeprägt, noch ist mit Gewissheit verifizierbar, ob es sich beim hereinstürmenden Hirten um eine Selbstdarstellung handelt. Zudem scheinen Argumente, die auf physiognomischen Vergleichen beruhen gerade für das Spätwerk und insbesondere für die Apostel im Marientod prinzipiell wenig aussagekräftig. Viele Figuren ähneln einander, ohne dass man zwingend Rückschlüsse auf die Identitäten ziehen könnte.↩︎

  20. Ridderbos 2007, 23f; vgl. zudem Franke 2012, 254–256.↩︎

  21. Kruse 1994, 242.↩︎

  22. Quermann 2006, 119–122.↩︎

  23. Claussen 2000, 51.↩︎

  24. Ebd., 53. Zahlreiche Forschende betonen die visionäre Ausstrahlung der Figur, vgl. u. a. Ridderbos 2007, 24. Franke 2012, 276; Quermann 1998, bes. 119–122.↩︎

  25. Vgl. u. a. Claussen 2000, 53; Kruse 1994, 242; Quermann 2006, 119 (Anm. 325); Ridderbos 2007, 24.↩︎

  26. Vgl. u. a. Claussen 2000, 53; Franke 2012, 254–256.↩︎

  27. Franke verweist auf den Zusammenhang der beiden Vordergrundfiguren, die jeweils von einer „Kommentarfigur“ hinterlegt sind. Die Komplementärwirkungen der Kleidung verstärken das Konzept. Zudem vergleicht die Autorin die beiden Figuren im untersten Bildbereich mit den Propheten in der Berliner Hirtenanbetung. Während einer in Richtung BetrachterIn ausgerichtet ist, führt der andere diese ins Bild. Vgl. Franke 2012, 254–256.↩︎

  28. Ebd., 257.↩︎

  29. Zum Blick als Zeichen für die Doppeldeutigkeit von Sehen und Gesehen werden vgl. Quermann 2006, 128–130.↩︎

  30. Neben spirituellen Interpretationen sind dies auch medienreferenzielle. Franke verortet etwa das kompositionelle Zentrum des Bildes bei der Hand der linken Vordergrundfigur, was ein Zusammenspiel zwischen dem Künstler und seinem Medium ausdrücke und auf sein illusionistisches Können weise. Vgl. Franke 2012, 257.↩︎

  31. Dieser Blick wird bei zahlreichen Selbstdarstellungen Dürers überdeutlich, etwa bereits bei seinem ersten integrierten Selbstporträt im Jabach-Altar (Selbstdarstellung als Trommler am Außenflügel), 1504, Köln, Wallraf-Richartz Museum.↩︎

  32. Grebe 2006, 30f.↩︎

  33. Demele 2012, 156f. Auch zwischen dem Bildwerk von Hugo van der Goes und den Lehren von Cusanus wurden wiederholt Verbindungen festgestellt, konkret im Zusammenhang mit der hier thematisierten Figur etwa von Quermann 1998, 122f.↩︎

  34. Raupp 1984, 120.↩︎

  35. Preimesberger 2001, 180. Zum doppelten Blick bei Dürer vgl. zusammenfassend Krabichler 2017, 28f.↩︎

  36. Claussen 2000. U. a. weist auch Franke auf die melancholische Ausstrahlung der Figur hin, vgl. Franke 2012, 274–276.↩︎

  37. Besonders in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts stellen zeitgenössische Innenräume die Kulissen von Marienszenen dar. Diese erleichterten den Gläubigen die Identifizierung mit dem Bildgeschehen. Hugo van der Goes handelte mit seinem Raumkonzept entgegen dieser Tradition. Vgl. u. a. Quermann 2006, 130. Der seitlich angedeutete Raum kann als Reminiszenz an konventionelle Gemälde verstanden werden.↩︎

  38. Franke interpretierte die Bettkante wie eine Horizontlinie zwischen den Sphären. Vgl. Franke 2012, 276.↩︎

  39. Zu den Bedeutungsebenen des Vorhangmotivs vgl. den Katalogeintrag zu Hugo van der Goes, Anbetung der Hirten.↩︎

  40. Dhanens 1998, 12f, 357–360.↩︎

  41. Möglicherweise war dies vor der Beschneidung der Tafel auch für die zweite Vordergrundfigur links und den in grün gekleideten Apostel zu Füßen Mariens rechts gültig.↩︎

Literatur

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