Das Martyrium der hl. Ursula bei der Ankunft in Köln
Memling, Hans
Belgien; Brügge; Sint-Janshospitaal (Memling-Museum)
Inhaltsverzeichnis
Objekt
Bildrechte
| Detailtitel: | Das Martyrium der hl. Ursula bei der Ankunft in Köln (6. Bildfeld von: Reliquienschrein der hl. Ursula) |
| Titel in Originalsprache: | Martelaarschap van heilige Ursula bij aankomst in Keulen |
| Titel in Englisch: | St. Ursula Shrine; Ursula-Shrijn; Martyrdom of St. Ursula on Arrival in Cologne |
| Datierung: | vor 1489 |
| Ursprungsregion: | altniederländischer Raum |
| Lokalisierung: | Belgien; Brügge; Sint-Janshospitaal (Memling-Museum) |
| Lokalisierung (Detail): | Inventarnummer: 0.SJ176.I. |
| Medium: | Tafelbild; Schreinbild |
| Bildträger: | Holz |
| Maße: | Höhe: 35 cm; Breite: 25,3 cm |
| Maße Anmerkungen: | Angaben zu den Maßen des Bildfeldes betreffen die bemalte Fläche innerhalb der Rahmung; Objektmaße: 91,5 x 99 x 41,5 cm |
| Ikonografische Bezeichnung: | Ursula |
| Iconclass: | 11HH(URSULA)61 – St. Ursula and her companions are killed by the Huns outside the walls of Cologne; St. Ursula dies by an arrow, while the maidens are killed by arrows, spears or swords |
| Signatur Wortlaut: | ohne |
| Datierung Wortlaut: | ohne |
| Auftraggeber/Stifter: | Johannes-Hospital, Brügge; leitende Geistliche der Klostergemeinschaft: Jan Floreins (Oberer), Jacob de Ceuninc, Agnes Casembrood und evtl. eine unbekannte Schwester namens Elisabeth (abgeleitet von der Darstellung der hl. Elisabeth an der Schmalseite) |
| Provenienz: | am 21.10.1489 im Chor der Kirche des Johannes-Hospitals in die Nutzung als Reliquienschrein überführt; verblieb an unbestimmter Stelle in der Kirche; 1819 Transfer ins Museum in den Kapitelsaal |
| Zugänglichkeit zum Entstehungszeitpunkt: | öffentlich |
Bildnis 1
Bildrechte
| Lokalisierung im Objekt: | hinter der linken Schulter der hl. Ursula im letzten Bildfeld der Längsseiten |
| Ausführung Körper: | Schulterstück |
| Ausführung Kopf: | annähernd Frontalansicht |
| Ikonografischer Kontext: | inmitten der Schlussszene des Martyriums der hl. Ursula; sowohl von den Bewaffneten im Hintergrund als auch der Hauptszene im Vordergrund unbetroffen wirkend |
| Blick/Mimik: | direkter Blick aus dem Bild |
| Gesten: | indirekt selbstbezeichnende Geste (hält eine Kopfbedeckung vor die Brust) |
| Körperhaltung: | leicht seitlich in die Richtung der Frau zu seiner Rechten geneigt |
| Interaktion/Raum-, Bildraumbeziehung/ Alleinstellungsmerkmal: | direkt hinter der Heiligen in unmittelbarem Umfeld der Hauptszene, gemeinsam mit der zugeordneten Frau zu seiner Rechten die Heilige einrahmend; über auffällig rote Kleidung deutlich hervortretend; demütige Gesamtausstrahlung besonders durch Mimik und Gestik, Eindruck verstärkt durch die Gebetshaltung der Hände der Frau |
| Kleidung: | zeitgenössische Kleidung; auffälliger Pelzbesatz an Kragen und Kopfbedeckung |
| Zugeordnete Bildprotagonisten: | Frau links vom vorgeschlagenen Selbstporträt |
Forschungsergebnis: Memling, Hans
| Künstler des Bildnisses: | Memling, Hans |
| Status: | kontrovers diskutiert |
| Andere Identifikationsvorschläge: | Brügger Bürger |
| Typ | Autor/in | Jahr | Referenz | Seite | Anmerkungen |
|---|---|---|---|---|---|
| Erstzuschreibung | Lobelle-Caluwé | 1997 | Lobelle-Caluwé 1997 – Hans Memling | 50–52 | - |
| Bejahend | Martens | 1998 | Martens 1998 – Portrait explicite et portrait implicite | 15 | - |
| Skeptisch/verneinend | Campbell | 2005 | Campbell 2005 – Memling und die Tradition | 52 | - |
| Skeptisch/verneinend | Kapferer | 2008 | Kapfer 2008 – Überlegungen zu den Bildnissen | 64 | - |
| Bejahend | Lane | 2009 | Lane 2009 – Hans Memling | 249 | - |
| Skeptisch/verneinend | Birnfeld | 2009 | Birnfeld 2009 – Der Künstler und seine Frau | 71 | - |
Nach einer umfassenden Analyse der als mögliche Selbstdarstellungen Memlings diskutierten Porträts1 erweiterte Lobelle-Caluwé 1997 die Auswahl um eine neue These. Innerhalb der letzten Szenen der Ankunft der Heiligen in Köln an der Langseite des Ursula-Schreins identifiziert sie zwei über zeitgenössische Kleidung hervorstechende, in respektvoller Haltung verharrende, am Geschehen nicht teilnehmende Porträts. Die Autorin thematisiert die Möglichkeit, es könne sich bei den beiden Figuren um Auftraggeber handeln, fokussiert auf eine Beteiligung Memlings an der Stiftung und interpretiert die Selbstdarstellung als Stifterbildnis. Zur Untermauerung verweist Lobelle-Caluwé auf Gerard Davids Gemälde Virgo inter Virgines,2 in dem sich ein weitgehend anerkanntes Malerselbstporträt mit Gattin befindet, und stellt Übereinstimmungen in der Ausstrahlung der Figuren fest. Auch das Alter des Mannes bei Memling entspreche dem tatsächlichen Alter des Malers. Resümierend schließt die Autorin einschränkend, dass es trotz aller Logik keine verifizierenden, ihre Theorie unterstützenden Beweise gebe, und dennoch: „Diverses hypothèses ont été émises concernant le portrait de Memling. Pourquoi ne pas ajouter à cette liste un personnage représenté sur la châsse de sainte Ursule?“3
1998 fokussiert Martens in seiner Analyse von Identifizierungsmerkmalen integrierter Porträts insbesondere auf Merkmale der Bildnisse, die eine Abgrenzung von der Sakralhandlung bewirken, wie etwa zeitgenössische Kleidung oder auch gefaltete Hände. Als Paradebeispiel hierfür führt er ohne weitere Ausführungen zu möglichen Identifizierungen das Paar im Ursula-Schrein an. „On retrouve notamment ces attributs dans […] portraits implicites découverts il y a peu: […] celui d'un couple de dévots peint par Hans Memling dans la scène du Martyre de la châsse de sainte Ursule.”4
2005 stellt Campbell in seiner Auflistung identifizierbarer Assistenzporträts bei Memling wertneutral fest, dass das ältere Paar in der Märtyrerszene bei der Ankunft in Köln als Selbstporträt mit Frau identifiziert wurde.5
Gleichsam objektiv bezieht sich Kapferer (2008) auf Lobelle-Caluwés Vorschlag und bemerkt lediglich, dass keine Ähnlichkeit zur Figur im Donne-Altar bestehe.6
2009 vergleicht Birnfeld in ihren Studien zu Doppelbildnissen von Künstlern mit ihren Gattinnen Memlings Darstellung ebenfalls mit der von Gerard David. Es handle sich in beiden Fällen um Porträts, die sich durch fehlende „Berührungsängste“ auszeichnen. Entgegen der sonst üblichen Darstellungen von Figuren in respektvollem Abstand fungieren Memlings Bildnisse als der heiligen Szene nahe stehende Zeugen, deren demütige Haltung durch die Gestik ausgedrückt werde. Birnfeld zitiert Lobelle-Caluwés Resümee kritisch und bemerkt, dass sich die Hinweise auf ein Selbstporträt nicht verifizieren lassen.7
Vorsichtige Zustimmung fand die Theorie bei Lane (2009), die bezugnehmend auf Lobelle-Caluwé vermerkt, dass das Männerporträt als „face in the crowd“ traditionelle Merkmale integrierter Selbstporträts aufweise. In Bezug auf den direkten Blick stellt die Autorin fest, dass sich die Figur, indem sie sich aus dem Bild wendet, aus der Handlung löse, folglich eine Lücke zwischen Real- und Bildraum überbrücke und das Gemälde in einen Status zeitloser BetrachterInnenansprache überführe. Lane streicht weiters heraus, dass das Stilmittel des direkten Blicks in der Zusammenschau aller mutmaßlichen Selbstporträts Memlings nur im Ursula-Schrein Anwendung fand. Der Blick ist der Autorin ein Indiz: „[…] this man may indeed be Memling.“8
Mehr als ein Kultobjekt?
Der Reliquienschrein der hl. Ursula wurde bereits in Carel van Manders Lebensbeschreibungen niederländischer und deutscher Maler angeführt.1 Dies entspricht der ersten historiografischen Erwähnung eines noch erhaltenen Werks des Malers. Der Schrein stellt in seiner Machart ein Unikat dar;2 das Kultobjekt wird häufig als berühmteste Arbeit Memlings gewertet. Über einen Stich Albrecht De Vriendts aus dem Jahr 1889 wird der Schrein als „le fameux reliquair“ und ein imaginiertes Porträt Hans Memlings verbreitet.3
Das in spätgotischer Formensprache verzierte Reliquiar, das eine Kapelle mit Satteldach figuriert, ist als vergoldeter Holzschrein konzipiert. Illusionistisch gemalte Bereiche zeigen Tondi im Dachareal, den Innenraum der Kapelle suggerierende, figural bespielte Felder an den Schmalseiten sowie in sechs Szenen den Mythos der Heiligen beschreibende Bildfelder an den Längsseiten. Hierbei ist in den letzten beiden Sequenzen, die mit starken Referenzen an die Kölner Architektur über den Fluss Rhein als räumliche Einheit verbunden sind, die Ankunft der hl. Ursula in der Stadt angeführt, die ihr Finale in der Ermordung des Mädchens findet.4 Das mutmaßliche Selbstporträt Memlings mit Gattin ist dieser Szene beigestellt – die beiden befinden sich links und rechts hinter Ursula. Die Stifter sind durch zwei kniende Nonnen auf einer Schmalseite des Schreins verkörpert.5
Lobelle-Caluwé betont die Auffälligkeiten der Figuren hinter Ursula: „Two figures introduced in these scenes immediately catch the eye, for different reasons.“6 Dieser Hinweis muss im Zusammenhang mit den übrigen vorgeschlagenen Selbstporträts Memlings diskutiert werden. Sollte es sich bei der Frau um Memlings Gattin handeln, so ist dies nach momentanem Wissensstand die einzige Darstellung, die sie als zeitgenössische Person zeigt und nicht als Verkörperung einer stilisierten Madonna7 – sollte es sich beim Mann um ein Selbstporträt handeln, so ist es das einzige, das mit einem direkten Blick ausgestattet ist, was das Bildnis in unmittelbare Nähe zu einem in der Literatur des 16. Jahrhunderts thematisierten, zwischenzeitlich verlorenen Selbstbildnis bringt.8 Im Gegensatz zu anderen mutmaßlichen Selbstporträts, die Memling bis zur Entstehungszeit des Schreins ausführte, fehlt hier eine kompositionelle Differenzierung des Paares – eine Abgrenzung von der sakralen Historie ist durch die verinnerlichte aber aktionslose Teilhabe an der Szene einzig auf einer subtil-psychologischen Ebene vorgenommen. Auch die nur marginale, der perspektivischen Tiefentwicklung geschuldete Verkleinerung der Figuren unterscheidet diese Darstellung von den meisten potenziellen Selbstporträts. Diese Abweichungen vom üblichen Schema führen entweder alle bisherigen Diskussionen um Memlings Systeme der Selbstdarstellungen ad absurdum oder zeigen eine Neuentwicklung des Künstlers auf: eine neue Darstellungsform, die als selbstbewusstes Statement gewertet werden kann. Die von Müller Hofstede für niederländische Selbstbildnisse propagierte Formulierung in Demutsgeste, die bislang besonders auch bei Memling zum Tragen kam, kann für dieses Bildnis allem Anschein nach nur sehr bedingt angewandt werden.9
Zur Interpretation des Bildes kann eine Spiegelung auf der Rüstung des Soldaten zur linken Ursulas ins Feld geführt werden.10 Raumerweiternd wirksam bildet das Detail eine Sphäre der direkten Bezugnahme zur BetrachterIn, deren Lebensraum ins Bild impliziert ist. Das mutmaßliche Selbstbildnis überschneidend, bildet das reflektierte Umfeld ein stark differenzierendes „bewohntes“ Areal zwischen der Heiligen und der männlichen Figur. Weiterführende Überlegungen knüpfen an Memlings Systeme von BetrachterInnenansprache über veränderte Blickwinkel bzw. perspektivische Achsen an. Im vorliegenden Fall überbrückt das zeitgenössische Männerporträt Bild- und „fingierten Gemäldeumraum“ und führt in den Realraum, während das beigestellte Frauenporträt die sakrale Handlung vor einem inneren Auge wahrnimmt und somit ganz in eine transzendente Sphäre eintaucht. Die Kombination Heiligenmythos mit zeitgenössischen Porträts ist folglich in einem mehrfach gestaffelten Raum eingebettet, der sich aus sakraler Historie, tatsächlicher Stadt und zeitgenössischen Figuren, fingiertem BetrachterInnenraum, sphärischem Sakral- und Realraum zusammensetzt. Handelte es sich um ein Selbstporträt, wäre es als Schlüsselfigur zu diesem System von höchster Genialität. Es gibt keine schlagkräftigen Beweise für die These – unterstellt man Memlings Bildfindungen allerdings bewusste Konzepte, was durchaus gerechtfertigt scheint, so sollte die Möglichkeit einer stark intellektuell hinterlegten Selbstinszenierung nicht ausgeschlossen werden.
Verweise
Der frühe Kunsttheoretiker bezeichnete Memling als einen „für jene so frühe Zeit hervorragenden Meister“, das Reliquiar als einen „mit außerordentlich kunstreichen Figuren“ bemalten Schrein. Vgl. Mander (Floerke 2000), 40.↩︎
De Vos 1994b, 396. Nach Belting wird im Schrein „[d]ie Umkehrung der frühen Hierarchie der Künste […] manifestiert“, da sich an den Seiten, die traditionell mit Metallreliefs geschmückt waren, Tafelbilder befinden. Vgl. Belting 1994, 107.↩︎
Albrecht De Vriendt, Hans Memling, 1889, Antwerpen, Koninklijk Museum voor Schone Kunsten. Abbildung samt Erläuterungen in: Martens 2014, 231f.↩︎
Zu detaillierten Angaben zum Schrein vgl. u. a. De Vos 1994b, 296–303.↩︎
Ebd., 302. Zu weiteren Überlegungen zu den Stiftern vgl. u. a. Lobelle-Caluwé 1997, 50.↩︎
Ebd.↩︎
Vgl. den Einführungstext zu Memling bzw. den Analysetext zum mutmaßlichen Selbstporträt im Donne-Altar.↩︎
Müller Hofstede 1998.↩︎
Spiegelungen in Rüstungen der Soldaten sind eine prinzipielle Methode Memlings, den Bildraum zu erweitern. Im angegebenen Beispiel ist, soweit erkennbar, neben Landschafts- und Architekturelementen auch die Heilige mit dem Bogenschützen reflektiert.↩︎
Literatur
Zitiervorschlag:
Krabichler, Elisabeth: Das Martyrium der hl. Ursula bei der Ankunft in Köln (Katalogeintrag), in: Metapictor, http://explore-research.uibk.ac.at/arts/metapictor/katalogeintrag/memling-hans-das-martyrium-der-hl-ursula-bei-der-ankunft-in-koln-vor-1489-brugge-sint-janshospitaal-memling-museum/ (05.12.2025).