Inhaltsverzeichnis
Objekt
Bildrechte
| Detailtitel: | Die Qualen der Verdammten in der Hölle (Teil von: Zyklus zu Antichrist/Die Vier Letzten Dinge) |
| Alternativtitel Deutsch: | Höllenqualen der Verdammten |
| Titel in Originalsprache: | Dannati all’Inferno |
| Titel in Englisch: | The Damned; The Damned in Hell; The Wicked Taken to Hell; The Torments of the Damned |
| Datierung: | um 1499 bis 1503 |
| Ursprungsregion: | italienischer Raum |
| Lokalisierung: | Italien; Orvieto; Dom |
| Lokalisierung (Detail): | Cappella Nova (Cappella della Madonna di San Brizio); westliche Seitenwand; Bogenfeld anschließend an die Altarwand Teil der malerischen Gesamtausstattung bestehend aus (summarischer Überblick): im Gewölbe: nördliches Joch: Kirchenväter, Jungfrauen, Patriarchen des Alten Testaments, Märtyrer etc.; südliches Joch: Apostel mit Maria, Christus als Weltenrichter (von Fra Angelico), Propheten mit Johannes dem Täufer (von Fra Angelico), Engel mit den Passionsinstrumenten; in den Bogenfeldern von Süden im Uhrzeigersinn: Aufnahme der Erwählten in das Paradies und Verstoßung der Verdammten (Altarwand, Teil des Jüngsten Gerichts), Die Qualen der Verdammten in der Hölle (westliche Seitenwand), Die Auferstehung des Fleisches/Die Toten verlassen die Gräber (westliche Seitenwand), Ende der Welt (Eingangswand), Predigt und Taten des Antichrist, Die Erwählten werden von den Engeln gerufen (östliche Seitenwand); in der Sockelzone: sechs Porträts von Dichtern bzw. berühmten Männern (nicht alle sind zweifelsfrei identifiziert, vorgeschlagen sind beispielweise Dante, Empedokles, Homer, Lukan, Orpheus, Ovid und Vergil) in einer Art fingierter Täfelung mit Grotesken sowie in Grisaille gehaltenen Darstellungen von Szenen aus den Werken der Dichter; im nördlichen Joch der Ost- und Westwand je eine Kapelle, westliche mit Grablegung Christi von Signorelli |
| Medium: | Wandbild |
| Material: | Fresko |
| Bildträger: | Wand |
| Ikonografische Bezeichnung: | Hölle; Dämonen |
| Iconclass: | 11U24 – the fall of the damned ~ Last Judgement; 11T51 – the damned souls beaten, pricked, scourged, etc. by devils |
| Signatur Wortlaut: | ohne |
| Datierung Wortlaut: | ohne |
| Auftraggeber/Stifter: | Der Bau der Kapelle erfolgte auf Basis einer testamentarischen Stiftung von Tommaso di Micheluccio (Bürger von Orvieto) von 1396; für die malerische Ausstattung der Kapelle (insbesondere des Gewölbes) waren Stiftungen von Achille di Baccio Monaldeschi und Francesco Monaldeschi (aus der angesehenen Orvietaner Familie Monaldeschi) zwischen 1420 und 1498 wichtig; die Finanzierung erfolgte aber hauptsächlich durch die Opera del Duomo/Fabbrica, die wohl auch das Programm unter Einholung des Rates von Schriftgelehrten bzw. des camerarius bestimmte. Eine Rolle für das Programm spielte möglicherweise auch (die Bibliothek des) Antonio Albèri (Erzdiakon von Orvieto). |
| Provenienz: | in situ |
| Zugänglichkeit zum Entstehungszeitpunkt: | öffentlich |
Bildnis 1
Bildrechte
| Lokalisierung im Objekt: | fliegender Dämon in der Bildmitte |
| Ausführung Körper: | Ganzfigur |
| Ausführung Kopf: | annähernd im Profil |
| Ikonografischer Kontext: | einer der die Verdammten in der Hölle quälenden Dämonen |
| Blick/Mimik: | Blick dürfte nach rechts oben gehen (vermutlich in Richtung der oberhalb stehenden Engel); leicht grinsender/feixender Gesichtsausdruck |
| Gesten: | hält die Hände der Frau auf seinem Rücken fest |
| Körperhaltung: | im Flug „liegend“, perspektivisch verkürzt dargestellt; Flugrichtung von rechts hinten nach links vorne zur Bildmitte hin; ein Bein angewinkelt; Kopf nach rechts oben gedreht; Flügel ausgebreitet |
| Interaktion/Raum-, Bildraumbeziehung/ Alleinstellungsmerkmal: | annähernd im Zentrum des Bogenfeldes platziert; einer der Flügel leicht überschnitten von der Hand eines stürzenden Verdammten |
| Kleidung: | nackt |
| Zugeordnete Bildprotagonisten: | zahlreiche Dämonen im Bild; die Figur hält eine nackte Frau auf ihrem Rücken fest; Clementini zufolge erkannte sich eine vom rechten Weg abgekommene Frau in dieser Figur; Venturi interpretiert die Frau als die Hure der Apokalypse |
Forschungsergebnis: Signorelli, Luca
| Künstler des Bildnisses: | Signorelli, Luca |
| Status: | Einzelmeinung |
| Status Anmerkungen: | Die Erstidentifzierenden konnten bislang nicht eruiert werden, der Vorschlag wird in der Forschung bis auf eine ablehnende Meinung nicht diskutiert. |
| Typ | Autor/in | Jahr | Referenz | Seite | Anmerkungen |
|---|---|---|---|---|---|
| Skeptisch/verneinend | Roettgen | 1997 | Roettgen 1997 – Wandmalerei der Frührenaissance in Italien | 393 | - |
Roettgen schreibt, um die eine Frau auf seinem Rücken tragende Teufelsfigur rankten sich Legenden, u. a. sei sie für ein Porträt Signorellis gehalten worden, da man in der Szene Parallelen zu einem Abenteuer des Malers sehen wollte.1 Roettgen erwähnt ihre Quelle nicht. Möglicherweise irrt sich die Autorin in Bezug auf die Dämonenfigur, in der man Signorellis Selbstbildnis sehen wollte – siehe dazu den Forschungsstand zum zweiten möglichen Selbstbildnis als blauer Dämon.
Verweise
Roettgen 1997, 393.↩︎
Bildnis 2
Bildrechte
| Lokalisierung im Objekt: | Dämon mit bläulicher Körperfarbe und einem Horn in der horizontalen Bildmitte |
| Ausführung Körper: | Ganzfigur stehend |
| Ausführung Kopf: | Dreiviertelporträt |
| Ikonografischer Kontext: | einer der die Verdammten in der Hölle quälenden Dämonen |
| Blick/Mimik: | Blick nach unten aus dem Bild; leicht grinsender/feixender Gesichtsausdruck |
| Gesten: | hält eine der verdammten Frauen umschlungen |
| Körperhaltung: | stehend, leicht zurückgelehnt; Körper nach links ausgerichtet, Kopf in Richtung Betrachter gedreht |
| Interaktion/Raum-, Bildraumbeziehung/ Alleinstellungsmerkmal: | überschnitten von den Figuren (Verdammte, Dämonen) davor, sodass lediglich ein Teil der Beine sichtbar ist; die Frau, die von der Figur festgehalten wird, scheint sich zu wehren; es dürfte der einzige Dämon mit nur einem Horn sein; hervorgehoben durch blaue Körperfarbe (allerdings sind auch die übrigen Dämonen teils buntfarbig); rund um den Dämon und die Frau bildet sich ein Kreis aus miteinander ringenden Figuren; Dämon fängt in zentraler Position den Blick des Betrachters auf |
| Kleidung: | nackt |
| Sonstiges: | hat ein Horn auf der Stirn |
| Zugeordnete Bildprotagonisten: | zahlreiche Dämonen im Bild; Frau, die von ihm festgehalten wird |
Forschungsergebnis: Signorelli, Luca
| Künstler des Bildnisses: | Signorelli, Luca |
| Status: | kontrovers diskutiert |
| Typ | Autor/in | Jahr | Referenz | Seite | Anmerkungen |
|---|---|---|---|---|---|
| Erstzuschreibung | Scarpellini | 1964 | Scarpellini 1964 – Luca Signorelli | 110–112 | - |
| Bejahend | Paolucci | 1996 | Paolucci 1996 – La rappresentazione teatrale di Luca | 149 | - |
| Bejahend | Paolucci | 2000 | Paolucci 2000 – Luca Signorelli | 53 | - |
| Bejahend | Paolucci | 2004 | Paolucci 2004 – Luca Signorelli | 297 | - |
| Skeptisch/verneinend | Henry | 2012 | Henry 2012 – The Life and Art | xiif | - |
Erstmalig beschreibt Scarpellini die zentral positionierte Dämonenfigur ausführlich als Selbstbildnis – „singolare e pressoché sconosciuto“ – Signorellis. Die hier diskutierte Figur unterscheidet sich nach der Beobachtung des Autors in mehreren Punkten von den übrigen Dämonen im Bild: Dieser Dämon freut sich nicht über seine Beute, sondern sein Gesicht drückt Schmerz aus, als wolle er um Mitleid bitten; er sei „troppo bello, troppo umano, troppo patetico“, trage nur ein Horn, auffällig lange Haare und sei durch individuelle Gesichtszüge gekennzeichnet, die bis auf die wilden Augenbrauen stark Signorellis Selbstbildnis im Antichrist ähnelten. Die Frau, die der Dämon festhält, erkennt Scarpellini ebenfalls im Antichrist sowie in vielen anderen Werken des Malers wieder, er müsse sich sehr für diese Frau interessiert haben. Anders als die übrigen Paare im Bildfeld wirkten diese beiden wie Liebende, die ein ewiges tragisches Schicksal teilen. Scarpellini ordnet die Darstellung als eine Art autobiografische Beichte1 ein, der Aspekt der bildlichen Rache (an einer Frau)2 spiele eine untergeordnete Rolle. Signorelli könnte das Paar nach dem Vorbild von Paolo und Francesca in Dantes Commedia3 eingefügt haben.
Außerdem gibt Scarpellini zu verstehen, dass er nicht der erste sei, der im hier diskutierten Dämon ein Selbstbildnis Signorellis gesehen habe. Er zitiert den Beginn eines Sonetts von Gabriele D’Annunzio und ist davon überzeugt, dass der Dichter – möglicherweise beeinflusst von einem kundigen Orvietaner – hier von einem Selbstbildnis Signorellis im einhörnigen Dämon spricht.4 Nach seiner Einschätzung hat Scarpellini damit eine schwierige literarische Stelle geklärt und ein zusätzliches Selbstbildnis Signorellis, das Einblick in seine Innenwelt gibt, gefunden.5
Paolucci (1996, 2000, 2004), der sich mit der Theaterhaftigkeit von Signorellis Fresken in Orvieto auseinandersetzt, geht ebenfalls davon aus, dass sich der Maler in dem einhörnigen Teufel porträtierte. Da der Dämon eine schöne Frau festhält, die gegen seine Umarmung ankämpft, kann Signorelli Paolucci zufolge nur auf eine Episode aus seinem eigenen Leben anspielen. Wahrscheinlich habe der Maler hier eine untreue Geliebte dargestellt und diese gleich mehrfach in der Cappella Nova abgebildet (am Rücken des fliegenden Dämons und vorne am Boden des Bildfelds stranguliert werdend sowie als Prostituierte, die im Vordergrund der Antichrist-Szene bezahlt wird).6
Henry (2012) breitet die Mythen um Luca Signorelli fein säuberlich sortiert aus, um sich anschließend an den historischen Fakten zu orientieren. Während Geschichten um eine sündhafte Orvietanerin, die sich in der Frau am Rücken des fliegenden Dämons wiedererkannte, bereits in Aufzeichnungen des 18. Jahrhunderts zu finden sind,7 wurde sie erst im 19. Jahrhundert zur untreuen Mätresse des Malers8 umgedeutet. Im 20. Jahrhundert schließlich wollte Scarpellini (s. o.) sie in der Frau sehen, die vom blauen Dämon festgehalten wird – und in diesem wiederum ein Selbstbildnis Signorellis. Dass sich die Geschichte mehrfach veränderte, ist für Henry ein Hinweis auf ihre Unwahrheit; auch wenn nicht völlig auszuschließen sei, dass Signorelli eine Geliebte in Orvieto hatte, sollten die Identifizierungsversuche der schönen Sünderin „quietly shelved“, also zu den Akten gelegt werden.9
Verweise
Hier fügt Scarpellini den einzigen konkreten kunsthistorischen Vergleich ein – am ehesten erinnere ihn dieses Selbstbildnis Signorellis an Michelangelos Selbstbildnis auf der Haut des Bartholomäus im Jüngsten Gericht in der Sixtinischen Kapelle (Vatikanstadt, 1434–41, Fresko).↩︎
Auch Fiumi 1936 Fiumi schreibe im Übrigen von einer fiktiven schönen Sünderin („Ginevra“) im Leben des Malers.↩︎
Dante (hg. von o. Hg. 2010) (Inferno, 5. Gesang).↩︎
Scarpellini zitiert die ersten sechs Verszeilen eines Sonetts von D'Annunzio (hg. von Palmieri 1943), 407f zur Stadt Cortona, in dem der Schriftsteller auf Luca Signorelli anspielt. Wie auch Scarpellini anmerkt, versteht der das Gedicht kommentierende Palmieri in der hier zitierten Ausgabe den Passus ebenfalls als eine Anspielung auf ein Selbstbildnis Signorellis im Kontext des Infernos in den Orvietaner Fresken, wird aber nicht fündig und verwirft den Gedanken.↩︎
Scarpellini 1964, 110–112.↩︎
Paolucci 1996, 149; Paolucci 2000, 53; Paolucci 2004, 297. Diese Aufzählung ließe sich noch erweitern – ein Hinweis darauf, dass sich Signorelli für die Frauendarstellungen in Orvieto einfach eines bestimmten Gesichtstyps bediente, der nichts mit dem Porträt einer konkreten Person zu tun haben dürfte. Für eine alternative Interpretation der Szene, die Paolucci als Bezahlung einer Prostituierten interpretiert, siehe etwa Riess 1995, 70.↩︎
Clementini Anfang 18. Jh. (ediert von Andreani 1996, 457).↩︎
Symonds 1893, 251f zit. n. Henry 2012, xiii.↩︎
Henry 2012, xiif zit. n. Henry 2012, 13.↩︎
Den Teufel an die Wand malen
Signorellis Fresken in der Cappella Nova überschreiten programmatisch die Grenze zum Betrachterraum: Die gemalte Architektur lässt Bild und Realität verschwimmen, vor der Apokalypse fliehende Menschen scheinen von der Wand in die Kapelle zu fallen und mitten aus der Darstellung der Verdammten fliegt ein Dämon mit einer Frau auf seinem Rücken auf die KirchenbesucherInnen zu. Wenn die Bilder so sehr beanspruchen, Teil der Erfahrungswelt der BetrachterInnen zu sein, muss es vielleicht nicht verwundern, wenn diese eigene Geschichten in die Bilder projizieren. So wird der Maler zum Dämon, der sich künstlerisch an einer Geliebten rächt oder – so ließe sich die Sache auch interpretieren – ihr mittels Schocktherapie die Chance gibt, noch auf den rechten Weg zurückzukehren. Plausibel ist dies nicht.
Literatur
Zitiervorschlag:
Gstir, Verena: Die Qualen der Verdammten in der Hölle (Katalogeintrag), in: Metapictor, http://explore-research.uibk.ac.at/arts/metapictor/katalogeintrag/signorelli-luca-die-qualen-der-verdammten-in-der-holle-um-1499-bis-1503-orvieto-dom/ (05.12.2025).