Ein verlorener Altar von Geertgen tot Sint Jans
Bildrechte
Während der Belagerung Haarlems (1572/73) durch die Armee Philipps II. von Spanien im Achtzigjährigen Krieg wurde der Hochaltar der Johanniterkirche – ein Kreuzigungsretabel von Geertgen tot Sint Jans – zerstört. Lediglich die ehemals rechten Flügelbilder dieses Hauptwerks des Malers blieben erhalten, wie bereits van Mander in seinem Schilder-boeck berichtet.1 Die beiden Tafeln – das Schicksal der Gebeine von Johannes dem Täufer und die Beweinung Christi – befinden sich heute in der Sammlung des Kunsthistorischen Museums in Wien.2 Sie gelten als einziges bezeugtes Werk des Künstlers und bilden daher die Grundlage für die Rekonstruktion seines Oeuvres.3 Der Altar dürfte mit einer Breite von etwa sechs Metern im geöffneten Zustand zu den größten in den Niederlanden gezählt haben.4
Hinsichtlich der Kompositionsstruktur der Tafel der Beweinung Christi lassen sich Parallelen zu Hugo van der Goes‘ Monforte-Retabel feststellen.5 Ein weiterer Vergleich bietet sich mit der van der Goes‘schen Beweinung Christi an, da sowohl bei van der Goes als auch bei tot Sint Jans die Figur des hl. Nikodemus als mögliche Selbstdarstellung thematisiert wurde.
Der Porträtcharakter einzelner Figuren des Sint Jant’schen Retabels ist in der Forschung weithin anerkannt und bildet die Basis vieler Überlegungen. In der Beweinung Christi betrifft dies insbesondere den Diener, der sich rechts hinter der Szene befindet und das Grabtuch hält.6
In der ikonografisch anspruchsvollen Tafel zum Schicksal der irdischen Überreste des Täufers sind verschiedene postmortale Episoden aus den Legenden um Johannes den Täufer synchron dargestellt. Während im Hintergrund nach der unter Herodes durchgeführten Enthauptung des Heiligen Kopf und Leib getrennt bestattet werden und die Einholung der Gebeine in einer feierlichen Prozession stattfindet, sieht man im vorderen Bereich die Öffnung des Grabes und die Verbrennung der Gebeine. Letzteres wurde im Jahr 362 von Kaiser Julian Apostatas initiiert, der mit seinem Gefolge im vorderen rechten Bereich zu sehen ist.
Im linken Mittelgrund der Tafel wird die Wiederauffindung der Gebeine des Heiligen vom historischen Zeitpunkt (13. Jahrhundert) ins 15. Jahrhundert versetzt. Das Haarlemer Ordenshaus fungierte als Auftraggeber für die Tafel, die vermutlich anlässlich des Erwerbs einer Arm- und Fingerreliquie durch den Großmeister im Jahr 1484 geschaffen wurde.7 So sind fünf hochrangige Mitglieder des Haarlemer Johanniterkonvents im linken Bereich der Gruppe hinter dem Grab durch das Zeichen des Ordens auf ihren Umhängen – ein Kreuz mit acht Spitzen – erkennbar gemacht. Gemeinsam mit weiteren Porträtfiguren bezeugen sie die Szene.
Seit Riegel werden die Porträts dieser Auffindungsszene als eine Vorstufe des holländischen Gruppenporträts gewertet.8 Innerhalb dieser psychologisch von der Handlung isolierten und unbeteiligt wirkenden Gruppe befinde sich möglicherweise auch der Maler Geertgen tot Sint Jans.9 Als Kriterien der Porträtform stellt Riegl die durch die Handlung gegebene innere Einheit der Dargestellten bei gleichzeitiger Passivität bzw. Unbetroffenheit gegenüber eben dieser Handlung fest. Die Einzelbildnisse scheinen unbetroffen und interagieren nur bedingt.10 Die Szene steht am Anfang einer neuen Gattung, in der Individuen in einem gesellschaftlichen Kontext und zu dessen Dokumentation porträtiert werden. Somit weist diese Tafel Parallelen zu späteren niederländischen Gerechtigkeitsbildern auf – etwa zum verlorenen Werk Rogier van der Weydens sowie den Gemälden von Dieric Bouts11 und Gerard David – für die ebenfalls Thesen zu integrierten Selbstdarstellungen diskutiert werden.
Bezüglich Geertgens eigener Darstellung herrscht in der Forschung Uneinigkeit. Drei Figuren wurden als mögliche Selbstbildnisse vorgeschlagen: der bärtige Mann in der Gruppe der Szene der Rettung der Gebeine, die braun gekleidete Figur am rechten Rand dieser Männer sowie eine Bildfigur mit brauner Kappe und verinnerlicht wirkendem Blick. Letztere befindet sich nahe dem Kaiser und ist aus seiner Position links hinter einem farbigen Protagonisten nach rechts vorne orientiert. Dieser junge Mann weist bei genauerer Betrachtung eine Reihe interessanter Merkmale auf.
Verweise
Mander (Floerke 2000), 46.↩︎
Zur Provenienz: 1573 Zerstörung des Altars bei der Belagerung Haarlems und Transport des verbliebenen Flügels nach Utrecht; bis 1625 im Besitz des Johanniterordens Haarlem; bis 1628 im Besitz der Stadt Haarlem; Verkauf an den niederländischen Staat; 1635 als Geschenk an Karl I. von England; 1638–49 in der Sammlung des Duke of Hamilton; ab 1649 in habsburgischem Besitz, 1659 in der Sammlung von Erzherzog Leopold Willhelm; seit 1777 in der Kaiserlichen Galerie in Wien und von dort ins Kunsthistorische Museum. Vgl. u. a. Kruse 1994, 265.↩︎
Vgl. u. a. ebd., 264.↩︎
Aus der Literatur zum Altar vgl. u. a. Boon 1967, 5–8; Bruyn 2009; Châtelet 1980, 219f; Faries 2010; Kemperdick/Sander 2007, 27–37; Kruse 1994, 265f; Pächt (hg. von Rosenauer 1994), 216–222; Snyder 1960; Snyder/Silver 2005, 178–180; van Bueren/Faries 1991; van der Kuijl 2019, bes. 171–214.↩︎
Vgl. u. a. Kruse 1994, 265; Pächt (hg. von Rosenauer 1994), 216.↩︎
Zum Porträt in der Beweinung vgl. u. a. Ainsworth 1998, 35.↩︎
Kruse 1994, 265.↩︎
Vgl. Riegl 1931, bes. 7f.↩︎
Ebd., 11. Zur Porträtgruppe, zur Beziehung der Dargestellten zueinander, zu Fragen nach der Identifizierung einzelner vgl u. a. Baldass 1921, 17–19; Kessler 1930, 17–19; Pächt (hg. von Rosenauer 1994), 220–222; Panofsky 1971, 327; Snyder 1960, 127; Thiemann 1994, 24f; van Bueren/Faries 1991. Zu den Kommandantenporträts aus dem Sint Jans-Kloster in Haarlem umfassend vgl. van Bueren 1991, zur Wiener Tafel Geertgens bes. 10f, 43–47, 88f.↩︎
Zum Gruppenporträt Geertgens gesamt vgl. Riegl 1931, 7–24, zur Verschleierung des Gruppencharakters durch voneinander unabhängige Darstellung der einzelnen Figuren bes. 11.↩︎
Zu einem Vergleich von Geertgens Johannestafel mit dem Bouts’schen Gerechtigkeitsbild vgl. u. a. Blümle 2011, 144–149, 194–196.↩︎
Zugehörige Objekte
Literatur
Zitiervorschlag:
Krabichler, Elisabeth: Ein verlorener Altar von Geertgen tot Sint Jans, in: Metapictor, http://explore-research.uibk.ac.at/arts/metapictor/ue-objekt/geertgen-tot-sint-jans-ein-flugel-des-ehemaligen-hochaltares-der-johanniterkirche-in-haarlem/ (05.12.2025).