Hans Memlings Greverade-Altar

Bildrechte

Als einer der letzten großen Altäre Memlings ist der Greverade-Altar des Lübecker Doms als vielfiguriger Flügelaltar für deutsche Bestimmungen entworfen worden. Er zeigt eine mittels simultaner Darstellung verschiedener Szenen deutlich gemachte Passionsgeschichte, die ihren Höhepunkt in der Kreuzigungsszene auf der Mitteltafel findet.1 Eben dort, unter dem Kreuz des guten Schächers am linken Bildrand, besticht eine Gruppe porträthaft ausgeführter Männer, die schon früh Anlass zu allerlei Spekulationen gaben. So wollte etwa Kämmerer (1899) die Gründer der Bruderschaft des Heiligen Kreuzes erkennen (Heinrich Greverade, Heinrich Castorp, Hans Pawels),2 Schroeder (1937) hingegen verankerte die Bildnisse im Familienverband des Stifters (Adolf Greverade, Heinrich Greverade, Heinrich Greverade d. J.).3 Hasse (1967) bemerkte allgemeiner, dass es sich um „tatsächliche Bildnisse“ handle, die auf eine Formulierung persönlicher Bezugnahmen Memlings zu seiner Umwelt und seinem Leben deuten.4 Auch in der jüngeren Forschung ist man der Meinung, dass zeitgenössische Personen abgebildet sind.5

Mit seiner Monografie Dürer bei Memling6 stellt Evers 1972 eine spektakuläre These in den Raum: Der Autor schlägt vor, die Porträts im Umkreis des Künstlers zu verorten und meint, dass es sich hierbei um Michael Wolgemut, Albrecht Dürer und Hans Memling handle.7 Zudem vertritt Evers auf Basis technischer Analysen die Ansicht, die Dreiergruppe wäre von Dürer ins Bild eingebracht.8 Als Pro-Argumente führt er die Porträthaftigkeit der einzelnen Figuren und Ähnlichkeiten zu überlieferten Porträts an, besonders von Wolgemut und dem frühen Dürer – nicht zuletzt anhand von Analysen von Dürers Selbstbildnis im Pelzrock von 1500.9 Bezüglich des mutmaßlichen Porträts Memlings formuliert er vorsichtig: „Für den dritten Mann, rechts, habe ich zwar manches erwogen, aber keine systematischen Suchungen angestellt. Es wäre am einfachsten, wenn man Memling in ihm erkennen dürfte“.10 Über Vergleiche des Greverade-Altars mit überlieferten Kopien in Budapest11 und Haarlem,12 die sich dadurch auszeichnen, dass anstelle der Dreiergruppe nur zwei Porträts dargestellt sind, schließt er, dass es sich bei den drei Lübecker Bildnissen um Persönlichkeiten handeln müsse, die zur Entstehungszeit (und nur zur Entstehungszeit dieses Altars) 1491 in Brügge „körperlich anwesend oder geistig bedeutsam waren.“13 Borchert, der das Altarbild 1993 einer partiellen technischen Untersuchung unterzog, konnte feststellen, dass die ursprüngliche Komposition im Bereich der Porträts der Kreuzigung in Budapest entspricht, die er als Werkstattkopie des Lübecker Altars einstuft. Das mittlere Porträt – das im Greverade-Altar als ein Selbstbildnis Dürers vorgeschlagen ist – ist auf der Unterzeichnung nicht angeführt.14 Vergleichend beruft sich Evers zudem auf Dreiergruppen, die ebenfalls mutmaßliche Selbstporträts enthalten,15 ebenso auf die Tradition des Selbstbildnisses im Sinne von Freundschaftsbildern16 – letzteres steht in Zusammenhang mit Überlegungen zu einem möglichen Aufenthalt Dürers in den Niederlanden bzw. in Memlings Werkstatt,17 eine These, die selbst von aktuellster Forschung nicht zweifelsfrei belegt werden kann.18 Akribisch analysiert Evers weiters die Tradition westfälischer volkreicher Kalvarienberg-Darstellungen19 und legt überdies eine Entwicklung von Abbildungen Veronikas mit dem Schweißtuch offen, die besonders in westfälischen Kompositionen für Genredarstellungen genutzt, und die an der Position der hier dargestellten Dreiergruppe unter dem Kreuz des guten Schächers ausgeführt wurden. Evers führt u. a. Derick Baegerts Dortmunder Altarretabel mit der Kreuzigung Christi, in der der Maler ein Selbstbildnis integrierte, beispielhaft für eine solche Szene an und leitet eine Entwicklung hin zur Anwesenheit des Malers unter dem Kreuz ab, die er auch bei Memling feststellt: Vielleicht ist der Maler „durch eine Art Erschüttertheit […] anstelle des Christuskopfes und der hl. Veronika erschienen, die Hersteller anstelle des Hergestellten.“20

Evers These polarisiert und wird großteils nicht übernommen. In der vorliegenden Datenbank wird Evers Ansatz in zwei getrennten Betrachtungen der eventuellen Bildnisse Dürers und Memlings in Katalogeinträgen zum Greverade-Altar behandelt.

Verweise

  1. Zu Details zu Bildinhalt, Komposition und Aufbau vgl. u. a. De Vos 1994, 320–329; Lane 2009, 162–164. Zu Memlings Bildgruppe der Passionspanoramen vgl. Gerth 2010.↩︎

  2. Kaemmerer 1899, 128f.↩︎

  3. Schroeder 1937, 14f.↩︎

  4. Hasse 1967, 24, 27. Für weitere Identifizierungsvorschläge, rückreichend bis ins 18. Jahrhundert, vgl. Evers 1972, 13; De Vos 1994, 326.↩︎

  5. Vgl. u. a. Campbell 2005, 52.↩︎

  6. Evers 1972.↩︎

  7. Ebd., 7, 12.↩︎

  8. Ebd., 87.; zu Argumenten hierfür vgl. Evers 1972, 85–87.↩︎

  9. Albrecht Dürer, Selbstbildnis im Pelzrock, 1500, München, Alte Pinakothek. Vgl. Evers 1972, bes. 1, 72–77.↩︎

  10. Ebd., 11f.↩︎

  11. Nach Hans Memling, Kreuzigung, um 1490, Budapest, Museum der Schönen Künste.↩︎

  12. Nach Hans Memling, Kreuzigung, 1515, Haarlem, Frans Hals Museum.↩︎

  13. Evers 1972, 14.↩︎

  14. Borchert 1993, 93f↩︎

  15. Als Beispiel führt Evers den Meister des Aachener Altars an: Meister des Aachener Altars, Anbetung der Heiligen Drei Könige, um 1510, Berlin, Staatliche Museen zu Berlin, Gemäldesammlung. Vgl. Evers 1972, 13f.↩︎

  16. Als Vergleich nennt der Autor ein Rubens-Gemälde, in dem neben dem Selbstbildnis des Malers auch ein Porträt seines Lehrers Justus Lipsius erscheint: Peter Paul Rubens, Selbstbildnis im Kreise der Mantuaner Freunde, um 1602–05, Köln, Wallraf-Richartz-Museum. Vgl. ebd., 84.↩︎

  17. Ebd., 8–10.↩︎

  18. Dürers Wanderjahre von 1490 bis 1494 sind nicht ausreichend belegt, um einen Aufenthalt Dürers in den Niederlanden nachweisen zu können. Speziell über die Zeit von 1490 bis 1492 sind derzeit keine definitiven Aussagen möglich, vgl. Foister 2021, 86–90.↩︎

  19. Evers 1972, 34–42.↩︎

  20. Ebd., 72–77, bes. 76.↩︎

Zugehörige Objekte

Literatur

Borchert, Till-Holger: Some Observations on the Lübeck Altarpiece by Hans Memling, in: Schoute, Roger van/Verougstraete, Hélène (Hg.): Le dessin sous-jacent dans la peinture. Dessin sous-jacent et pratiques d'atelier (Université Catholique de Louvain. Institut Supérieur d'Archéologie et d'Histoire de l'Art. Document de travail, 27; Tagungsband, 12.–14.09.1991), Louvain-la-Neuve 1993, 91–100.
Campbell, L.: Memling und die Tradition der altniederländischen Portraitmalerei, in: Borchert, T.-H. (Hg.): Hans Memling. Portraits (Ausstellungskatalog, Madrid; Brügge; New York, 15.2.–15.5.2005; 7.6.–4.9.2005; 6.10.–31.12.2005), Stuttgart 2005, 48–67.
De Vos, Dirk: Hans Memling. Das Gesamtwerk, Zürich u. a. 1994.
Evers, Hans Gerhard: Dürer bei Memling, München 1972.
Foister, Susan: Dürers Frühe Reisen: Tatsachen und Legenden, in: Brink, Peter van (Hg.): Dürer war hier. Eine Reise wird Legende (Ausstellungskatalog, Aachen, 18.7.–24.10.), Petersberg 2021, 85–104.
Gerth, Julia: Wirklichkeit und Wahrnehmung. Hans Memlings Turiner Passion und die Bildgruppe der Passionspanoramen (Neue Frankfurter Forschungen zur Kunst, 8), Berlin 2010.
Hasse, Max: Hans Memlings Lübecker Altarschrein (Lübecker Museumshefte, 6), Lübeck 1967.
Kaemmerer, Ludwig: Memling. Mit 129 Abbildungen nach Gemälden und Zeichnungen (Künstler-Monographien, 39), Bielefeld u. a. 1899.
Lane, Barbara G.: Hans Memling. Master Painter in Fifteenth-Century Bruges, London u. a. 2009.
Schroeder, Hans: Der Passionsaltar des Hans Memling im Dom zu Lübeck, Leipzig 1937.

Zitiervorschlag:

Krabichler, Elisabeth: Hans Memlings Greverade-Altar, in: Metapictor, http://explore-research.uibk.ac.at/arts/metapictor/ue-objekt/hans-memlings-greverade-altar/ (05.12.2025).