Masaccios Sagra – Versuch einer Rekonstruktion
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Die Forschung brachte mehrfach die These hervor, Masaccio könnte sich in der Sagra selbst porträtiert haben, einem Wandbild, das keine zweihundert Jahre existierte, bevor es bei Umbauarbeiten zerstört wurde.1 Um dies besser beurteilen zu können und das Wandbild näherungsweise zu „rekonstruieren“, sollen hier kurz legitime Vermutungen und bekannte Fakten zusammengetragen werden.
„Fragmentary textual descriptions written long after the event and a handful of drawings, none of which reproduces the work in its entirety, are the only surviving clues to the appearance of the Sagra.“2 Obwohl diese Einschätzung Ecksteins zutrifft, handelt es sich bei dem verlorenen Wandbild Masaccios um ein künstlerisch prägendes und in der Kunstgeschichte vielbesprochenes Werk. Dargestellt war die Prozession anlässlich der Weihe der Kirche Santa Maria del Carmine in Florenz, die am 19. April 1422 stattfand und unter die sich in der Realität wie in Masaccios Darstellung zahlreiche bekannte Bürger der Stadt gemischt hatten, wie etwa Vasari berichtet. Dieser beschreibt das Fresko ausführlich und lobt sowohl die überzeugende perspektivische Darstellung der defilierenden Männer als auch die Lebensnähe der eingefügten Porträts, von denen er einige namentlich benennt.3 Bemerkenswert ist dabei, dass Vasari in der ersten Ausgabe der Viten 1550 lediglich Filippo Brunelleschi, der Holzpantinen trage, und Donatello im Wandbild porträtiert sieht und erst in der zweiten Ausgabe 1568 zahlreiche weitere Persönlichkeiten identifiziert, darunter Masolino, Antonio Brancacci und Giovanni di Bicci di’ Medici.4
Zur Technik des Freskos schreibt Vasari, Masaccio habe in terra verde und chiaroscuro gearbeitet,5 was allgemein akzeptiert wird.6 Joannides ist der Ansicht, Masaccio könnte Gesichter und Hände hautfarben ausgeführt haben.7
Mit der Prozessionsdarstellung gilt Masaccio als Erfinder der „Renaissance crowd scene“,8 bzw. als Begründer des „realistische[n] Gruppenbild[s]“.9 Die Sagra kann in dieser Hinsicht als Auftakt für die vom Maler in der Brancacci-Kapelle dargestellten Menschengruppen gesehen werden. Es wird auch angenommen, dass Masaccio die Prozession an einem wiedererkennbaren Ort, wohl am Platz vor der Kirche, verortete.10 So wurde das Wandbild auch für spätere Maler Vorbild, wobei als nahe verwandt insbesondere die Prozession zum Sakramentswunder von Sant’Ambrogio von Cosimo Rosselli (1484–86) und die Erweckung eines Knaben von Domenico Ghirlandaio (1482/83–85) bezeichnet werden. Im Falle der Consacrazione di Sant’Egidio von Bicci di Lorenzo,11 dessen Malerei nicht die Qualität Masaccios erreicht, ist nicht geklärt, ob es vor oder nach der Sagra entstand;12 Joannides beispielsweise geht aber davon aus, dass Bicci di Lorenzo Anleihen bei Masaccios Wandbild nahm.13
Wesentliche Stütze bei dem Versuch, das verlorene Wandbild zu rekonstruieren sind, wie bereits erwähnt, acht Zeichnungen,14 die allerdings je nur Ausschnitte der Sagra wiedergeben. Die Grafiken datieren zwischen dem späten 15. und dem späten 16. Jahrhundert und zeigen einzelne Figuren oder Figurengruppen, wobei eine Gruppe von Männern mehrfach auftaucht. Just in dieser werden auch Bildnisse sowie das Selbstbildnis Masaccios vermutet; in der Forschung (siehe Forschungsstand) werden in diesem Zusammenhang insbesondere folgende Zeichnungen diskutiert:
anonym (Florenz), frühes 16. Jh., schwarze Kreide, 25,9 x 30 cm (beschnitten), Florenz, Sammlung Ugo Procacci15
anonym, spätes 16. Jh., Feder auf schwarzer Kreide (rosa laviert bei der rechten oberen Gruppe), 18,9 x 27,8 cm, Folkestone Museum and Art Gallery (Kent County Council)16
Andrea Boscoli (zugeschrieben), 16. Jh., Feder laviert und weiß gehöht, 13,5 x 11,9 cm (beschnitten), Florenz, Uffizien, Gabinetto dei Disegni, 76E17
Immer wieder wurde auch ein Zusammenhang mit der Tafel Fünf Meister der Florentiner Renaissance18 vermutet, die bei Vasari beschrieben sein dürfte und die er in der ersten Ausgabe der Viten 1550 Masaccio zuschreibt,19 in der zweiten Ausgabe 1568 jedoch Paolo Uccello.20 Heute gilt das Gruppenporträt als Werk eines anonymen Künstlers, der möglicherweise einzelne Porträts, u. U. sogar ein Selbstbildnis Masaccios, nach der Sagra kopierte (siehe Forschungsstand und die Vorbemerkung zu Masaccio).
Insgesamt gibt es zwei bzw. drei unterschiedliche Selbstbildnis-Vorschläge für die Sagra: Einen unbestimmten, der lediglich angibt, es sei ein Selbstbildnis vorhanden, ohne eine konkrete Figur zu nennen; einen, der eine Figur in Analogie zur Selbstbildnisfigur Ghirlandaios in der Erweckung als Selbstbildnis Masaccios benennt und schließlich den meist diskutierten, der Masaccio in der aus dem Bild blickenden großen Figur neben dem kleineren Masolino erkennt.
Verweise
Joannides 1993, 443.↩︎
Eckstein 2014, 44.↩︎
Vasari/Lorini/Posselt 2011, 36–39.↩︎
Ebd., 36–38 und Anm. 66 von Posselt.↩︎
Ebd., 36.↩︎
Vgl. etwa Hoffmann 2009.↩︎
Joannides 1993, 443.↩︎
Joannides 1993, 446.↩︎
Nagel 2009, 167.↩︎
Joannides 1993, 170. Eine Rekonstruktionszeichnung der Musei Civici Fiorentini stellt die Szene auf der Piazza del Carmine dar (Abbildung auf der Internetseite der Musei Civici Fiorentini, eingesehen am 14.06.2022; Abbildung und kurze Besprechung auch bei Eckstein 2014, 48–50).↩︎
Bicci di Lorenzo, Papa Martino V consacra la chiesa di S. Egidio, nach 1420, Fresko (abgenommen), Florenz, Santa Maria Nuova.↩︎
Eckstein 2014, 47.↩︎
Joannides 1993, 445. Joannides datiert Bicci di Lorenzos Fresko versuchsweise auf ca. 1430–40.↩︎
Eine sorgfältige Auflistung und Besprechung der Zeichnungen findet sich bei ebd., 170–172, 443–446; wenn nicht anders angegeben, sind diesen Stellen bei Joannides auch weitere Informationen zu den Zeichnungen entnommen. Eine Auflistung der Zeichnungen findet sich etwa auch bei Spike 1996, 204, der in seiner Einschätzung aber Joannides folgt. Auch Borsi/Borsi 1998, 244–249 beschäftigen sich eingehend mit den Zeichnungen und stellen umfangreiche Informationen zum Forschungsstand bereit.↩︎
Abgebildet etwa bei Roettgen 1996, 96.↩︎
Abgebildet etwa bei Krautheimer 1958, 177 (online verfügbar, eingesehen am 26.01.2022).↩︎
Abgebildet etwa bei Del Carlo 2012, 7.↩︎
Anonym, Fünf Meister der Florentiner Renaissance: Giotto, Uccello, Donatello, Manetti, Brunelleschi, erste Hälfte 16. Jh., Paris, Louvre, INV 267.↩︎
Vasari/Lorini/Posselt 2011, 47.↩︎
Vasari/Lorini/Gründler 2012, 34 und 115 (Anm. 58).↩︎
Zugehörige Objekte
Literatur
Zitiervorschlag:
Gstir, Verena: Masaccios Sagra – Versuch einer Rekonstruktion, in: Metapictor, http://explore-research.uibk.ac.at/arts/metapictor/ue-objekt/masaccios-sagra-versuch-einer-rekonstruktion/ (05.12.2025).